Altrussisch

Auch: Altostslawisch. Ältestes → Sprachstadium des Russischen. Die altruss. Periode lässt sich in folgende zwei Teilperioden gliedern:

- die altruss. Periode im eigentlichen und engeren Sinne (11. bis 14. Jh.), dies ist gleichzeitig die Spätperiode des Gemeinostslawischen, und
- die großruss. (великорусский) oder mittelruss. Periode (среднерусский период) (14. bis Ende des 17. Jh.).
Die erste Teilperiode ist in die Zeit des Kiever Staates (862-1240) bzw. die Epoche der feudalen Zersplitterung einzuordnen. Gegen Ende dieser Periode löst sich das Gemeinostslawische auf und es entstehen ausgeprägte ostslawische Territorialdialekte. Die großruss. Periode steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung der großruss. Völkerschaft und der Entwicklung des Moskauer Staates.
Charakteristisch für A. war aus phonetischer Sicht der Wandel der reduzierten Vokale zu vollen Vokalen bzw. ihr Schwund. Die reduzierten Vokale wurden in den kyrillisch geschriebenen altslawischen und altruss. Handschriften mit den Buchstaben ь und ъ bezeichnet, die im graphischen System des heutigen Russischen keinen selbständigen Lautwert ausdrücken. Die beiden Vokale traten im Altruss. in allen morphologischen Bestandteilen des Wortes auf; im Wortanlaut kamen ь und ъ jedoch nicht vor. Des Weiteren ist der Verlust der Nasalität der Vokale /ę/ und /ǫ/ zu konstatieren, die mit den schon vorhandenen Oralvokalen /a/ und /u/) zusammenfallen: /ę > a/, /ǫ > u/. Aus den altslawischen *tj, *dj wurden ч, ж (→ Altslawisch). Im Bereich der → Morphologie wies A. im Vergleich zur russ. Gegenwartssprache eine größere Anzahl von Deklinationstypen (6) der Substantive auf, von denen zwei noch je ein hartes und ein weiches Deklinationsmuster besaßen. Außerdem kamen im Altruss. neben den Singular- und Pluralformen noch Dualformen (→ Dual) vor, und zwar in jedem Deklinationstyp drei. Die Anzahl der Genera ist die gleiche wie im heutigen Russ.: Maskulinum, Femininum und Neutrum. Die Zahl der → Kasus hat sich nur unbedeutend verringert, nämlich von sieben auf sechs, was durch den Schwund des Vokativs (→ Vokativ) bedingt ist. Somit konzentriert sich ein Großteil der Veränderungen im System des Substantivs auf Wandlungen, die mit dem Umbau der Deklinationstypen, ihrer Unifizierung, in Verbindung standen. Aus dem Gesagten erklärt sich der große Formenreichtum des Russ. in der Substantivflexion, der von einigen slawischen Sprachen, z.B. dem Tschechischen, noch übertroffen wird, während in der bulgarisch-mazedonischen Gruppe der Formenbestand durch den Verlust der → Deklination stark reduziert wurde. Die Kategorie der Belebtheit hat sich im Altruss. seit dem Urslawischen (→ Urslawisch) allmählich herausgebildet. Im Altruss. gab es, wie in der russ. Sprache der Gegenwart, zwei Hauptgruppen von Pronomina (→ Pronomen), die sich in → Flexion und Verwendung stark unterschieden: (a) die Personalpronomina der 1. und 2. Person (weder das Urslawische noch das frühe Gemeinostslawische verfügten über ein echtes → Personalpronomen der 3. Person), denen auch das nur als Objekt fungierende → Reflexivum zuzuordnen ist, (b) die in mehrere semantische Gruppen aufgegliederten nicht persönlichen Pronomen (неличные местоимения). Die Personalpronomina besaßen keine Genusformen (→ Genus), das Reflexivum hatte nur Singularformen wie auch die Interrogativa къто und чьто; alle übrigen Pronomen wurden nach Kasus und Numerus (Singular, Plural, Dual) flektiert und verfügten ebenfalls über Genusformen. Bei der übrigen Pronomina können für das Altruss. die gleichen Gruppen unterschieden werden wie im heutigen Russ. Innerhalb dieser Gruppen verfügte A. jedoch über einige Pronomina, die im Russ. der Gegenwart nicht mehr verwendet werden. Dazu gehören die Demonstrativpronomina сь, онъ und овъ, das Interrogativpronomen кыи und andere. Es entstand im A. das Demonstrativpronomen этот (‘dieser’), dessen vollständiges Paradigma seit dem Ende des 16. Jh. überliefert ist. In seiner Entwicklung vom Urslawischen bis zum Großruss. hat das → Adjektiv nicht nur morphologische, sondern auch bedeutende semantisch-syntaktische Veränderungen erfahren. Für das A. sind – wie in der russ. Sprache der Gegenwart – Qualitäts-, Beziehungs- und Possessivadjektive zu unterscheiden. Die Qualitäts- und Beziehungsadjektive kamen jeweils in einer kürzeren substantivähnlichen nominalen Form (z.B. дoбpъ, дo6pa) und in einer längeren zusammengesetzten, im Urslawischen nominal-pronominalen Form (дobrъ-jь, *dobra-ja, altruss. добрыи, добрая) vor. Die Possessivadjektive verfügten nur über eine nominale Form. Sowohl die zusammengesetzten Adjektive (Langformen) als auch die einfachen (Kurzformen) wurden nach Genus, Kasus und Numerus flektiert, beide Formen traten in attributiver Funktion auf. Von den altruss. Qualitätsadjektiven konnten einfache und zusammengesetzte Komparativformen (→ Komparativ) gebildet werden. Beide Formen wurden flektiert und übernahmen dieselben syntaktischen Funktionen wie die Grundform des Adjektivs. Eine besondere Superlativform (→ Superlativ) gab es im A. nicht. Die Superlativbedeutung wurde mit lexikalischen Mitteln, durch die Verbindung von вельми ‘sehr’, очунь > очень, später von самый ‘selbst’ mit der Adjektivgrundform ausgedrückt. Der Gebrauch des analytischen Komparativs und Superlativs, wie более приятный und самый хороший, hat sich erst nach dem 17. Jh. gefestigt (vgl. Черных 1954, 203). Das altruss. Verb verfügte über die gleichen Kategorien, die auch das Verb im heutigen Russ. kennzeichnen (→ Person, → Numerus, → Tempus, → Modus, → Aspekt, → Genus verbi), jedoch war die Herausbildung der Aspektkategorie im Altruss. anfänglich noch nicht abgeschlossen. Mit Ausnahme des Präsens war das Tempussystem völlig anders organisiert und morphologisch repräsentiert: „Ольга съ сыномъ своимъ Святославомъ собра вои много и храбры, и иде на Дерьвьску землю“ [‘Olga und ihr Sohn Svjatoslav versammelten viele tapfere Krieger und zogen in das Land der Drevljanen’] (Ecker u.a. 1983, 161).

Lit.: Boeck, W.,/Fleckenstein, Ch./Freydank, D., Geschichte der russischen Literatursprache. 1974. Eckert, R./Crome, E./Fleckenstein, Ch., Geschichte der russischen Sprache. 1983. Kempgen, S., Die Entwicklung des altrussischen Vokalsystems als „Phänomen der dritten Art“ – Überlegungen zum Jat’-Wandel. http://kodeks.uni-bamberg.de/slavling/downloads/SK_Enwicklung_Altruss_Vokale_(preprint).pdf (letzter Zugriff: 06.03.2018). Krys’ko, V.B., Frühe volkssprachliche Entwicklung: Das Alstostslavische. In: Kempgen, S./Kosta, P./Berger, T./Gutschmidt, K. (Hrsg.), Die slavischen Sprachen. Ein internationales Handbuch zu ihrer Struktur, ihrer Geschichte und ihrer Erforschung. Bd. 2. 2014, 1345-1351. Leskien, A., Handbuch der altbulgarischen (altkirchenslawischen) Sprache. 1969. Бернштейн С.Б. Очерк сравнительной грамматики славянских языков. Москва 1961. Черных П.Я. Историческая грамматика русского языка. Изд. 2, Москва 1954. GB

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