Anredeformen

Sprachliche Formen, die durch nominale Ausdrücke (z.B. Namen Monika, Titel Doktor, Verwandtschafts- bzw. Rollenbezeichnungen Mutter, Junge Frau und Pronomina Du usw.) einen Kontakt zwischen den Interaktanten herstellen und/oder deren soziale Beziehungen zueinander ausdrücken (→ Sozialdeixis). In der Regel besteht eine Art pragmatische Kongruenz zwischen nominaler Anredeform und → Pronomen bzw. finiter (→ finit) Verbform (vgl. Vorderwülbecke 1976, 341). Die Verwendung der A. kann der Interaktion einen persönlichen Charakter oder auch eine zusätzliche pejorative Funktion (Du Idiot, ...) verleihen.

Die Auswahl der A. erfolgt unter Berücksichtigung dreier Ebenen:

  • a) der soziokulturellen (umfasst die Situation und die Ursache für die Anrede),
  • b) derjenigen der biologischen Realität (umfasst die Interaktanten selbst) und
  • c) der Ebene der konkreten linguistischen Manifestation (umfasst den speziellen → Kode, in dem die Anrede erfolgt, d.h. die Form, in die die Anrede gefasst wird) (vgl. Pieper 1984, 15f.).

Bei den pronominalen Formen wird nach frz. tu und vous zwischen T- und V-Formen unterschieden; ihr Gebrauch reflektiert die sozialen bzw. kulturellen Dimensionen von Status und Solidarität:

  • V reziprok bzw. symmetrisch: Distanz, Förmlichkeit, allgemeine Höflichkeit (wobei die wahren Machtverhältnisse oft verschleiert werden)
  • V nichtreziprok bzw. asymmetrisch: Achtung, Ehrerbietung, Ergebenheit
  • T reziprok: Solitarität, Bekannheit, Vertraulichkeit, Intimität
  • T nichtreziprok: Herablassung, Demütigung (vgl. Ervin-Tripp 1972).

Die enge Korrelation des Gebrauchs von T- und V-Formen mit den Normen für Status und Solidarität konnten Brown/Gilan (1968) aufgrund historischer und kulturkreisübergreifender Untersuchungen nachweisen (Macht- und Solidaritätssemantik).

Der Übergang von T nach V wird meist von ,oben‘ nach ,unten‘ angeregt (Anbieten des Du, aber auch geselliges Brüderschaft-Trinken) und ist in der Regel irreversibel. Diesen Wechsel bezeichnet Ammon (1972) als „Verselbständigung der Form gegenüber ihrem Inhalt“. Es gibt aber auch ein Duzen für begrenzte Zeit (Karneval, Urlaub usw.).

Durch die Verbreitung egalitärer Attitüden in den westlichen Gesellschaften ist seit einigen Jahrzehnten eine Zunahme der T-Formen festzustellen. Zu erwähnen sind Veränderungen im Anredeverhalten durch die Frauenbewegung. Wenn unter Studenten das solidarische (bzw. entkrampfende und progressive) Du Norm ist, müssen für Freundschaft, Intimität usw. zusätzliche Signale gefunden werden. Die Anrede eines Dozenten mit Sie kann Konnotationen (→ Konnotation) der Distanz erhalten; ebenso die entsprechende Anrede von Studenten durch Dozenten. Bei allgemeiner Kommunikation mit Du droht die Etikettierung mit Autoritätsverfall, Kumpanei, Gleichmacherei. Variiert der Dozent zwischen Sie und Du, kann bei Studenten semantische Unsicherheit entstehen (vgl. Bayer 1979). Deswegen ist die Auswahl der richtigen A. oft schwierig.

Lit.: Ammon, U., Zur sozialen Funktion der pronominalen Anrede im Deutschen. In: LiLi 7.1972. Baust, R., Der Erwerb der direkten Anrede im Deutschen. 1993. Bayer, K., Die Anredepronomina Du und Sie. Thesen zu einem semantischen Konflikt im Hochschulbereich. In: DS 7.1979. Besch, W., Duzen, Siezen, Titulieren: zur Anrede im Deutschen heute und gestern. 21998. Braun, F. u.a., Anredeforschung. 1986. Brown, R. W./Gilan, A., The pronouns of power and solidarity. In: Fishman, J.A. (ed.), Readings in the Sociology of Language. 1968. Buchenau, K., Die Distanzanrede im Russischen, Polnischen und Deutschen und ihre historischen Hintergründe. 1997. Ervin-Tripp, S.M., Sociolinguistics. 1972. Feldmeier, B. Anrede im Sprachkontakt: Reflexion und Gebrauch von Anredestrategien durch tschechische Migranten im deutschsprachigen Umfeld. 2015. Heinini, F., Das Anredeverhalten in Deutschland und Marokko. 2002. Kadzade, B., Anrede- und Grußformen im Deutschen und Albanischen. 2010. Kasai, Y., Das System der Selbstbezeichnungen, Anredeformen und Drittbezeichnungen auf dem Hintergrund der sozialen Beziehungen: ein deutsch-japanischer Sprachvergleich. 2002. Kohz, A., Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens: Untersuchungen am Deutschen und Schwedischen. 1982. Kretzenbacher, H.L., Vom Sie zum Du – mehr als eine neue Konvention? 1991. Pieper, U., Zur Interaktion linguistischer, sozialer und biologischer Variablen im Problemkreis der „Anrede“. In: Winter, W. (Hrsg.), Anredeverhalten. 1984, 9-24. Reinhardt, N./Neubauer, N., Zu Veränderungen im Sprachgebrauch: Die Anrede im Deutschen. 2009. Ridder, T., Die Formen der Anrede und ihre Bedeutung in verschiedenen Kulturen. 2010. Sager, S.F., Sprache und Beziehung. 1981. Shanson, T.L., International Guide to Forms of Address. 1997. Spillner, B., Die perfekte Anrede: schriftlich und mündlich, formell und informell, national und international. 2001. Vorderwülbecke, K., Anredeformen und Selbstbezeichnungen im Deutschen und Japanischen. In: Stickel, G. (Hrsg.), Deutsch-japanische Kontraste. Vorstudien zu einer kontrastiven Grammatik. 1976, 335-391. Winter, W., Anredeverhalten. 1984. Wolff, P., Anreden und Anschriften: korrekt in Wort und Schrift. 2000. EJ

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