Funktionsverbgefüge

30.01.2017 -  

Ein → Syntagma, das als nominalisierte, aber nicht vollständig synonyme Ausdrucksalternative für ein → Vollverb steht (jmdn. inAnspruch nehmen – jmdn. beanspruchen; Einfluss nehmen auf etw. – etw. beeinflussen).

a) Alle F. weisen eine binäre polylexikale Struktur auf, deren eine Konstituente ein → Funktionsverb ist. Funktionsverben wie bringen, führen, kommen, nehmen, stellen oder treffen sind mit einem → Nomen (bei Engel 1988, 407: „Gefügenomen“) zu einem → lexikalischen Wort verbunden. Hinsichtlich der morphologischen Typen des Nomens gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Enge bzw. die Weite des F.begriffes. In der Regel werden heute Funktionsverben, die sich mit einer → Präpositionalphrase oder einem Substantiv im Akkusativ zu einem lexikalischen Wort verbinden, zum Kern der F. gerechnet. (Strukturen, bestehend aus einem Funktionsverb und einem Substantiv im Nominativ, Genitiv oder Dativ sind in weitaus geringerem Maße lexikalisiert und erfüllen nur teilweise die unter b) und c) genannten Kriterien. Die Klasse der F. kann aufgrund der Produktivität des reihenbildenden Verfahrens als eine offene Klasse des lexikalischen Subsystems angesehen werden (Anerkennung, Anwendung, Beachtung, Erklärung, Unterstützung ... finden).

b) Nicht nur Lernende der deutschen Sprache, sondern auch Muttersprachler empfinden F. als Wortgruppen, denen der Status eines → Phraseologismus zugeschrieben werden kann: Syntagmen dieser Art sind lexikalisiert, d.h., ihre Struktur wird im Redemoment nicht produziert, sondern aus dem mentalen Lexikon abgerufen (reproduziert). Im Unterschied zu einer losen Wortgruppe ergibt sich die Bedeutung des Syntagmas nicht aus der Summe der Bedeutungen seiner einzelnen Elemente, sondern ihre mehrteilige Struktur wird als eine semantisch zusammengehörende Einheit wahrgenommen. Ebenso wie bei prototypischen Phraseologismen kann bei der Mehrheit der F. nicht gegen das Prinzip der lexikalischen Stabilität verstoßen werden (jmdn. in Anspruch nehmen, * jmdn. ingroßenAnspruch nehmen, *jmdn. in denAnspruch nehmen, * jmdn. in Anspruchbringen, ...). Schließlich können auch F. unterschiedliche Grade an → Idiomatizität aufweisen. Mit Hilfe der → Substitution kann vielfach gezeigt werden, dass eine Reihe von Funktionsverbgefügen mit einem Vollverb korreliert (unter Strafe stellen↔ bestrafen; zumAusdruck bringenausdrücken, Protokoll führenprotokollieren). Da diese F. als die gestreckte Form des ihnen semantisch entsprechenden Vollverbs erscheinen (die Verbbedeutung des ursprünglichen Vollverbs ist in das Nomen übergegangen, das Funktionsverb übernimmt auf der Handlungsebene die morphologischen Aufgaben des entsprechenden Vollverbs), werden sie in der Fachliteratur traditionell auch als „Streckformen“ (→ Streckform) bezeichnet. Der Substitutionstest verläuft negativ, wenn das Nomen des F. nicht zu den → Nomina actionis (→ Nomen actionis) gehört (in Aussichtstellen – *; in Kenntnis setzen – *; ins Feld führen – *). Derartige Wortgruppen zu den Funktionsverbgefügen zu zählen ist strittig (vgl. Fleischer 1997, 137), erscheint jedoch gerechtfertigt unter dem Gesichtspunkt, dass ihre lexikalisch-semantische Bedeutung ebenso durch ein Vollverb ausgedrückt werden könnte (versprechen; informieren; vorbringen, ansprechen). Der semantische Vergleich des Funktionsverbgefüges und des ihm entsprechenden Vollverbs zeigt jedoch, dass es unzutreffend wäre, von totaler → Synonymie zu sprechen, denn das Funktionsverb übernimmt nicht nur die morphologische Funktion des Vollverbs, sondern ist darüber hinaus Träger sehr allgemeiner semantischer Funktionen. Diese sind vor allem in der Variierung und Schattierung der → Aktionsart zu sehen (vgl. v. Polenz 1963, Helbig/Buscha 1972) und machen somit die spezifische semantische Leistung des Funktionsverbgefüges gegenüber einem möglichen Vollverb aus. Vgl.: sich in Abhängigkeit befinden; in Abhängigkeit geraten, jmdn. in Abhängigkeit bringen. Mit Hilfe von Funktionsverbgefügen können so die Phasen eines Geschehens bzw. das Bewirken eines Geschehens explizit akzentuiert werden.

c) Dass beide Teile eines Funktionsverbgefüges (bei Weinrich (2007, 41ff.): „Vorverb“ und „Nachverb“)einelexikalisch-semantische Einheit bilden,äußert sich auf der Ebene der Sprachverwendung in der für deutsche Aussagesätze typischen topologischen Verbferne des die vom finiten Verb eröffnete Klammer schließenden Elements (→ Lexikalklammer): Er nahm seinen Freund zum wiederholten Male wegen dieser Angelegenheit in Anspruch.

Wenn F. als lexikalische Wörter definiert werden, heißt dies auf der syntaktischen Ebene, dass das Prädikat mehrteilig ist und aufgrund der besonderen Struktur des Verbs sowohl über einen verbalen als auch über einen nominalen Anteil (d.i. Prädikatsteil oder → Prädikativ) verfügt. Vgl.: (a) Er brachte das Paket zur Post. (b) Er brachte das Problem zur Sprache. Während das Vollverb bringen in (a) drei Argumente hat, tritt bringen in (b) als Funktionsverb auf und bildet mit zur Sprache das → Prädikat; das satzbildende Verb ist demzufolge nur zweiwertig. Substitution und Fragetest können dies bestätigen: In (b) lässt sich die Präpositionalphrase i.d.R. weder durch ein → Pronominaladverb ersetzen, noch lässt sie sich erfragen, was hingegen bei Satzelementen mit Satzgliedfunktion möglich ist: Er brachte das Paket dahin. Wohin brachte er das Paket? Zur Post./ Er brachte das Problem *. * brachte er das Problem? *.

d) Texte mit verstärktem Anteil an Funktionsverbgefügen waren bis etwa 1960 Gegenstand der → Sprachkritik, die diese Ausdrucksalternative zu Vollverben als eine nur unnötige Aufblähung des Textes, als „Spielart der Hauptwörterkrankheit“ (Reiners 2004, 113; zuerst 1943) oder „Sprachbeulen“ und „Papieridiome“ (Riesel 1959, 186ff.) ansah. „Sämtliche einschlägigen Vokabeln vom seelenlosen Bürokratentum bis zum Verlust an Sinnlichkeit im technischen Zeitalter sind in diesem Zusammenhang gefallen.“ (Eisenberg 1986, 295). Insbesondere von Polenz (1963) untersuchte im Zusammenhang mit dem → Nominalstil die lexikalisch-semantischen Leistungen der F. Er zeigt, dass sie in der Regel eine viel differenziertere Aussage als ihr Vollverbpendant ermöglichen und auf diese Weise semantische Lücken innerhalb der Wortart Verb schließen helfen können. „Ein positiver Vorteil der FVG besteht offensichtlich darin, in dem relativ wenig differenzierten Wortschatz über die Möglichkeiten einfacher Verben hinaus prädikative Informationen zu nuancieren [...]“ (Pilz 1981, 89). Aufgrund der Rahmenbildung (vgl. c)) erhält das Verbalgeschehen den Status des Rhemas (→ Rhema). Als kompliziert empfundene Passivkonstruktionen können mit Hilfe der F. sprachlich umgangen werden (etw. ist anerkannt worden → etw. hat Anerkennung gefunden).

F. sind ein wesentliches Merkmal des Nominalstils und aufgrund ihres formelhaften Charakters u.a. bestimmten Textsorten vor allem des öffentlichen Verkehrs vorbehalten. Der Gebrauch von Funktionsverbgefügen ist jedoch keineswegs ausschließlich einer gehobenen → Stilschicht zuzuordnen, auch in der Sprache des alltäglichen Verkehrs lassen sich gehäuft F. nachweisen. Sie sind das Ergebnis einer Entwicklungstendenz, in deren Verlauf der Sprachgebrauch freier Syntagmen zu einer Wortschatzerweiterung führt. Darin, dass F. „eine Grenzgruppe zwischen Syntax und Phraseologie“ (Pilz 1981, 87) bilden und u.a. auch Gegenstand der → Semantik und der → Textlinguistik sind, kann eine Ursache für die oft als emotional und dogmatisch erscheinende Diskussion in der Fachliteratur gesehen werden. Die Beschreibung prototypischer F. sollte sowohl strukturell-formale, lexikalisch-semantische, syntaktische, als auch pragmatische Aspekte berücksichtigen.

Lit.: Burger, H., Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 22003. Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. 2006. Eisenberg, P., Grundriss der deutschen Grammatik. 31994. Ders., Grundfragen der deutschen Grammatik. Bd. 2. Der Satz. 42013. Engelen, B., Zum System der Funktionsverbgefüge. In: Wirkendes Wort 18. 1968, 289-303. Fleischer, W./Hartung, W./Schildt, J./Suchsland, P., Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. 1983. Fleischer, W., Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 21997. Helbig, G./Buscha, J., Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 19., neubearb. Aufl. 2001. Hentschel, E./Weydt, H., Handbuch der deutschen Grammatik. 4., vollständig überarb. Aufl. 2013. Heringer, H.J., Die Opposition von kommen und bringen als Funktionsverben. 1968. Herrlitz, W., Funktionsverbgefüge vom Typ „inErfahrung bringen“. Ein Beitrag zur generativ-transformationellen Grammatik des Deutschen. Kamber, A., Funktionsverbgefüge – empirisch. Eine korpusgestützte Untersuchung zu den nominalen Prädikaten des Deutschen. 2008. Pilz, K.D., Phraseologie. 1981. Polenz, P. von, Funktionsverben im heutigen Deutsch. Sprache in der rationalisierten Welt. 1968. Pottelberge, J. van, Funktionsverbgefüge und verwandte Erscheinungen. In: Burger, H./Dobrovol’ski, D./Kühn, P./Norrick, N.R. (Hrsg.), Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 1. Halbbd. 2007, 436-444. Reiners, L., Stilkunst Ein Lehrbuch deutscher Prosa. 2. Aufl. der neubearb. Ausg. 2004. Riesel, E. Stilistik der deutschen Sprache. 1959. Weinrich, H., Textgrammatik der deutschen Sprache. 42007. AJ

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