Germanisch

13.01.2016 -  

[engl. Germanic, frz. germanique, russ. германские языки]

 

  1. Sammelbezeichnung für eine idg. Sprachengruppe, zu der zunächst die noch lebenden westgerm. Sprachen (Hoch-)Deutsch, Niederdeutsch, Jiddisch, Niederländisch (mit seinem Kolonialableger Afrikaans), Friesisch und Englisch sowie die lebenden nordgerm. Sprachen Dänisch, Schwedisch, Norwegisch (Bokmål und Nynorsk), Isländisch und Färöisch gehören. Von fast allen diesen Sprachen sind mittelalterliche Vorstufen überliefert, z.B. Alt- und Mittelhochdeutsch, Alt- und Mittelniederländisch, Altisländisch usw. Auch diejenigen kolonialen Kreol-Sprachen, die auf dem Engl. beruhen, lassen sich zu den germ. Sprachen zählen. Von den ausgestorbenen germ. Sprachen ist nur das ostgerm. Gotische ( Gotisch) gut überliefert (Wulfilas Bibelübersetzung), während sonstige germ. Stammessprachen, so etwa die ostgerm. Sprachen Burgundisch und Vandalisch oder das westgerm. Langobardische nur in Spuren, meist Namen innerhalb lat. Urkunden, bruchstückhaft greifbar werden. Zu den ausgestorbenen germ. Sprachen gehört auch das Norn, eine koloniale Varietät des Norwegischen, die vom 9. Jh. bis in die frühe Neuzeit die Sprache der Shetland- und der Orkney-Inseln sowie von Teilen Schottlands war.
  2. Bezeichnung der ältesten, durch Rekonstruktion erschließbaren, gemeinsamen Grundsprache, aus der sich die genannten Sprachen entwickelt haben. Innerhalb dieser Grundsprache „Germanisch“ lässt sich eine frühere Stufe (Ur-, Früh- oder Vorgermanisch), in der der im Idg. noch bewegliche Wortakzent noch nicht an die Wurzel-, d.h. meist die Anfangssilbe gebunden war (s.u.), von einer späteren (Gemeingermanisch) unterscheiden. Das Ur- und das Gemeingerm. wird man sich als nicht völlig homogene Sprachen, sondern eher als Dialektkontinua vorstellen müssen. Darauf deuten Unterschiede der Einzelsprachen in Wortschatz, Wortbildung und Flexion hin; so besitzen z.B. die nordgerm. Sprachen keine lautliche Repräsentation des westgerm Verbs dt. machen, ndl. maken (stattdessen dort aisl. gera, dän. gøre ‘machen, tun’ usw.), ebenso fehlt dort die Entsprechung zum dt. (westgerm.) Suffix -nis. Bis in die Völkerwanderungszeit hinein darf aber mit gegenseitiger Verstehbarkeit der germ. Stammessprachen gerechnet werden.

Wurde lange Zeit, insbesondere aufgrund archäologischer Argumente, allgemein angenommen, dass die sog. „Urheimat“ der Germanen im westlichen Ostseebereich (Südschweden, dänische Inseln, Holstein) zu suchen sei (so z.B. noch F. van Coetsem 1970, kritisch indessen E. Seebold 1998), von wo sie nach Süden gewandert seien, so weisen jüngere Ergebnisse der Ortsnamenforschung (J. Udolph 1994) darauf hin, dass das dichteste Vorkommen archaischer Typen germ. Ortsnamenbildung in einem Gebiet liegt, das sich nördlich der dt. Mittelgebirge von Südwestfalen über Südniedersachsen bis nach Sachsen-Anhalt erstreckt und auch die nördlichen Bereiche Thüringens und Hessens umfasst. Es geht dabei z.B. um Bildungen mit dem germ. Suffix -ithi, so etwa Beuchte, Krs. Wolfenbüttel < asä. Bôk-ithi ‘wo es Buchen gibt’. Nördlich der Elbe kommt dieser altertümliche Ortsnamentyp praktisch nicht vor; Ähnliches gilt für eine Anzahl weiterer morphologischer Typen. Im südlichen Norddeutschland und nicht an den westlichen Ostseeküsten dürfte sich demnach das Zentrum des Gebietes befinden, von dem aus die germ. Sprachen sich nach ihrer Differenzierung von den benachbarten Sprachgruppen des Idg. (vor allem: Italisch, Keltisch, Baltisch) allmählich ausgedehnt haben.

Das älteste schriftlich fixierte germ. Wortmaterial besteht vor allem aus germ. Personen- und Ortsnamen, die in Schriften antiker Schriftsteller enthalten sind (Plinius d. Ä., Caesar, Tacitus). Eine Quelle eigener Art bilden die Namen germ. Göttinnen („Matronen“) auf Votivsteinen, die diesen in römischer Zeit am Niederrhein von (vermutlich) germ. Söldnern gesetzt worden sind. In ihnen ist u.a. eine archaische Form des Dat. Pl. (-ims) bezeugt. Mit dem 2. Jh. nach Chr. setzt, zunächst in Dänemark, die Überlieferung germ. Inschriftentexte in runischer Schrift ein.

Die oben unter 1. benutzte (traditionelle) Einteilung der germ. Sprachen in je eine nord-, ost- und westgerm. Gruppe basiert letztlich auf Schleichers Stammbaum-Theorie und berücksichtigt somit die Möglichkeit der gegenseitigen Beeinflussung oder gar Vermischung der Einzelsprachen (z.B. den hansezeitlichen Einfluss des Niederdt. auf die nordgerm. Sprachen) primär nicht. Jedoch besitzt sie trotz allen berechtigten Vorbehalten gegenüber dem Stammbaum-Modell, wenn man sie mit jüngeren Einteilungs­versuchen vergleicht, etwa dem von Maurer (1953), der fünf Gruppen (nämlich Elb-, Oder-Weichsel-, Nord-, Nordsee- und Weser-Rhein-Germanen) unterscheidet, den Vorteil der leichteren Handhabbarkeit.

Das Germ. unterscheidet sich von den übrigen idg. Sprachen durch eine Reihe von Neuerungen, die bis ungefähr zur Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. durchgeführt waren. Es sind dies insbesondere: (1) Der Umbau des Systems der idg. Okklusivlaute ( germ. Lautverschiebung). Dabei werden idg. p, t, k > germ. f, þ, χ (h), idg. b, d, g > germ. p, t, k und idg. bh, dh, gh > germ. ƀ, đ, ǥ. Beispiele (nur für die 1. Reihe): lat. piscis ‘Fisch’ entspr. schwed. fisk; lat. tenuis ‘dünn’ entspr. engl. thin, lat. caput ‘Kopf’ entspr. dt. Haupt. (2) Die Revokalisierung der idg. (durch schwundstufigen Ablaut entstandenen) tönenden Nasale n̥, m̥ und tönenden Liquiden l̥, r̥ zu germ. un, um, ul, ur. Ein Beispiel hierfür ist die u-Vokalisierung des Negationspräfixes im Germ. (dt. ungut), gegenüber in- (aus en-) im Lat. (dt. ineffizient) und a(n)- im Griech. (dt. atypisch, anorganisch). (3) Die Fixierung des im Idg. nach bestimmten Regeln beweglichen Wortakzents auf die Wurzelsilbe. Das Frz. z.B. führt als Tochtersprache des Latein die idg. Tradition des beweglichen Akzents noch heute fort (frz. je chánte, chantér < lat. cánto, cantáre), dagegen dt. sínge, síngen, gesúngen. Die Konzentration der Artikulationsenergie auf die Wurzelsilbe hat in der Entwicklung der germ. Sprachen zu einem weitgehenden Abbau der Flexionsendungen geführt. Am ausgeprägtesten ist dieser Rückgang im Jütischen und im Engl. verlaufen, relativ gering ist er im Isl. gewesen. (4) Die Schaffung einer zusätzlichen, mit einem n-haltigen Suffix gebildeten Flexionsklasse des Adjektivs: Neben dem Flexionstyp rotem Wein (starke Deklination, Dat. Sg.) gibt es daher im Dt. den Typus dem roten Wein (schwache Deklination). Die Wahl zwischen beiden Flexionsweisen folgt in den germ. Einzelsprachen z.T. eigenen Regeln (dt. manch roter Wein vs. mancher rote Wein), soweit die Unterscheidung aufgrund des allgemeinen Abbaus der Flexionsendungen (s.o.) nicht wieder hinfällig geworden ist, so im Engl. (5) Die Reduktion der Vielfalt der idg. synthetisch gebildeten Tempora auf nur zwei (Präsens und Präteritum). (6) Die Verwendung des im Idg. bereits vorhandenen Ablauts ( Ablaut, d.i. der regelhafte Wechsel zwischen den Stammvokalen wurzelidentischer Wörter, z.B. lat. teg-ere ‘bedecken’, tog-a ‘Gewand’) zum Ausbau eines umfangreichen Systems „starker“ Verben und ihnen zugehöriger Verbalsubstantive (dt. z.B. trinken, trank, getrunken, Trank, Trunk). (7) Die Neuentwicklung eines mit Dentalsuffix gebildeten Präteritums nebst zugehörigem Partizip („schwache“ Verben: z.B. dt. bauen, baute, gebaut).

Indogermanisch, Indoeuropäisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Onomastik, Toponym, Hydronym

Lit.: Bauchhenss, G./Neumann G. (Hrsg.), Matronen und verwandte Gottheiten. 1987. Beck, H. (Hrsg.), Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde (Sonderdruck aus Beck, H. u.a. (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde). 1998. van Coetsem, F., Zur Entwicklung der germanischen Grundsprache. In: Schmidt, L.E., Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500. 1970. Hirt, H., Handbuch des Urgermanischen. 1-3. 1931-1934. Hutterer, K. J., Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. 42008. Krahe, H., Germanische Sprachwissenschaft. 1-3 (Bd 3 gemeinsam mit W. Meid). 1966-1967. Maurer, F., Nordgermanen und Alemannen. 31953. Schmid, W. P., Alteuropa und das Germanische. In: Beck, H. (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht. 1986. Seebold, E., Sprache und Schrift [der Germanen]. In: Beck, H. (Hrsg.), Germanen. 1998. Udolph, J., Namenkundliche Studien zum Germanenproblem. 1994. Wayne, H., The Germanic Languages. 2007. HB

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