Indogermanisch

22.12.2015 -  

[engl. Indo-European, frz. indo-européen, russ. индоевропейский, индогерманский]

 

  1. 1. Als Adjektiv (Abkürzung idg.) in Aussagen wie „Deutsch ist eine indogermanische Sprache“: die Zugehörigkeit einer Sprache zu einer Sprachenfamilie, deren Mitglieder geographisch über ein von Indien im Südosten bis zu den germanischen Sprachen im Nordwesten (etwa: Isländisch) reichendes Gebiet verteilt sind. Im Terminus idg., Anfang des 19. Jh.s geprägt, ist somit weder die neuzeitliche koloniale und imperiale Expansion idg. Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch über weite Teile der Welt berücksichtigt noch die erst im 20. Jh. vollzogene Entdeckung des in Ost-Turkestan (China, Provinz Xinjiang), also extrem östlich beheimatet gewesenen Tocharischen und seine Identifizierung als idg. Sprache.
    Zu den idg. Sprachen gehören die folgenden (z.T. ausgestorbenen) Sprachenfamilien bzw. Einzelsprachen: (a) Indisch, zur Abgrenzung von den nicht-idg. Sprachen Indiens auch Indoarisch genannt, mit den altindischen Sprachstufen Vedisch (ca. 1200 v. Chr.) und Sanskrit sowie den heutigen Sprachen Hindi, Urdu u.a.m. Auch das durch Migration im späten Mittelalter nach Europa gelangte Romani (Zigeunerisch) ist eine indoarische Sprache. (b) Iranisch mit seinen alten Sprachstufen Avestisch und Altpersisch. Zu den lebenden iran. Sprachen gehören neben dem Persischen (Farsi) u.a. Paschtu (Afghanistan), Tadschikisch, Kurdisch, Ossetisch. Indisch und Iranisch bilden historisch eine enge Einheit. (c) Tocharisch (s.o.). (d) Armenisch (seit dem 5. Jh. n. Chr. überliefert). (e) Der anatolische Sprachzweig des Idg. bestand aus dem Hethitischen (älteste Textzeugnisse: 16. Jh. v. Chr.) sowie weiteren Sprachen des frühgeschichtlichen Kleinasien, u.a. Luwisch, Palaisch, Lykisch, Lydisch. (f) Die älteste alphabetschriftliche Überlieferung des (in eine Anzahl von Dialekten gegliederten) Griech. bilden die sprachlich ins 8. Jh. v. Chr. zu datierenden Epen Homers. Wesentlich weiter zurück reicht die silbenschriftliche (sog. Linear B) Überlieferung griech. Inschriften aus Knossos, Mykene, Pylos, Tiryns und Theben. Die ältesten Zeugnisse dieses „mykenischen Griechisch“ sind um 1650 v. Chr. entstanden. Im griech. Linear B und in den hethitischen Texten liegen somit die frühesten Verschriftlichungen idg. Sprachen vor. (g) Phrygisch (antikes Kleinasien). (h) Albanisch (erst seit dem 15. Jh. n. Chr. überliefert). (i) Italisch, in vor-lat. Zeit bestehend aus Venetisch, Oskisch, Umbrisch, Latino-Faliskisch. Die nicht-lat. italischen Sprachen sind seit dem politischen Aufstieg Roms im Lat. aufgegangen. Die heutigen romanischen Sprachen (Italienisch, Alpenromanisch [Rätoromanisch, Ladinisch], Französisch, Okzitanisch, Katalanisch, Spanisch, Portugiesisch, Sardisch, Rumänisch) sind Tochtersprachen des Lat. (j) Keltisch. Die festlandkeltischen Sprachen (Gallisch u.a.m.) sind ausgestorben, von den inselkeltischen werden noch gesprochen: Irisch, Kymrisch (Wales), Schottisch-Gälisch, Bretonisch (durch frühmittelalterliche Rückwanderung von den britischen Inseln in die Bretagne gelangt). (k) () Germanisch. (l) Das Baltische ist heute durch das Litauische und Lettische repräsentiert, ausgestorben sind Altpreußisch und Kurisch. (m) Die slawischen Sprachen gliedern sich in drei Gruppen: (ma) Südslawisch: Bulgarisch (Altkirchenslawisch seit 10./11. Jh. überliefert), Serbisch, Kroatisch, Slowenisch, Mazedonisch, (mb) Ostslawisch: Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch und (mc) Westslawisch: Polnisch (samt Kaschubisch), Tschechisch, Slowakisch, Ober- und Niedersorbisch. Das Sorbische erstreckte sich noch im hohen Mittelalter bis auf die Westufer von Elbe und Saale. Im Nachmittelalter ausgestorbene Varietäten des Westslawischen sind das Polabische (Elbslawische) in Ostholstein, in Teilen der Altmark und im Hannoverschen Wendland (letzte Sprecher des dortigen Draväno-Polabisch im frühen 18. Jh. bezeugt) sowie das insbesondere an der Ostseeküste Pommerns bis in die frühe Neuzeit gesprochene Pomoranische.
  2. Als Substantiv (Abkürzung Idg.; auch unter den Bezeichnungen Uridg., Gemeinidg.): die zu postulierende und in ihren phonologischen, morphologischen und lexikalischen Bausteinen rekonstruierbare Grundsprache, aus der heraus sich die oben unter (1) aufgeführten idg. Einzelsprachen entwickelt haben. Dass mit einer solchen gemeinsamen Grundsprache (die nicht mit einer mythischen „Ursprache“ der Menschheit verwechselt werden darf) zu rechnen ist, kann als gesichert gelten. Die Tatsache, dass die idg. Sprachen nicht nur in ihrem lexikalischen, sondern gerade auch in ihrem wortbildungsmorphologischen und flexivischen Morphembestand tiefreichende Übereinstimmungen aufweisen, lässt sich mit der Hypothese der Entstehung des Idg. aus einem Sprachbund (der allmählichen Konvergenz mehrerer benachbarter Sprachen zu einer Einheit) nicht erklären. Das (Ur-)Idg. war eine flektierende Sprache, in der mittels Suffixen zahlreiche grammatische Kategorien indiziert wurden: in der Nominalflexion Genus, Numerus und Kasus, in der Verbalflexion Tempus, Modus, Aspekt (diese drei z.T. semantisch ineinander verschränkt), Diathese, Person, Numerus. Nicht das gesamte Spektrum der Flexions-Kategorien altüberlieferter idg. Sprachen (z.B. Griech., Lat.) muss schon in der ältesten Epoche des Idg. vorhanden gewesen sein. So ist z.B. die im Griech. und Lat. vorliegende, aber auch im Dt. bis heute bewahrte Trias der Genera (m./f./n.) vermutlich erst in der frühen Geschichte des (Ur-)Idg. durch die Überlagerung zweier Genus-Oppositionen (belebt/unbelebt und männlich/weiblich) entstanden. Andererseits sind in zahlreichen modernen idg. Sprachen bestimmte ur-idg. vorhandene Flexions-Kategorien wieder abgebaut worden (z.B. Aspekte, Dual, Passiv, Medium). Die lexikalische Übereinstimmung zwischen den idg. Sprachen besteht einerseits in fundamentalen Wortschatzbereichen wie dem der Zahlwörter und der Verwandtschaftsbezeichnungen, darüber hinaus aber in der Identität von Wortbauelementen (Wurzeln, Stämmen, Suffixen). Die Unterschiedlichkeit einzelsprachlicher Stammbildung bei identischer Wurzel (z.B. ahd. sterno ‘Stern’ < idg. *ster-no, aber lat. stel-la < idg. *ster-lâ) lässt auf dialektale Heterogenität bereits des Idg. schließen. Da die Überlieferung der ältestbezeugten idg. Sprachen (Vedisch, Hethitisch, mykenisches Griech.) ins 2. Jtsd. v. Chr. zurückreicht bzw. -weist und da diese drei Sprachen sich damals in ihrer Laut- und Formstruktur bereits weit auseinander entwickelt hatten, muss der Zeitraum der ur-idg. Spracheinheit weiter zurückliegen (ca. 3000 - 5000 v. Chr). In diese (jungsteinzeitliche) Epoche verweisen auch die in Betracht kommenden Bereiche des rekonstruierbaren ur-idg. Wortschatzes, der von Ackerbau (also Sesshaftigkeit) und Viehhaltung zeugt, aber keine weitreichend-gemeinsamen Metallbezeichnungen besitzt. Die Frage nach dem geographischen Ort des (Ur-)Idg. jener Zeit (Vorschläge z.B.: Kaukasus, südliches Osteuropa, Europa nördlich der Alpen zwischen Baltikum und Atlantik) ist bislang nicht verbindlich beantwortet.

Indogermanistik, Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, Sprachfamilie

Lit.: Brugmann, K./Delbrück, B. Grundriß der vergleichenden Grammatik der idg. Sprachen. 1886-1890. Meier-Brügger, M., Idg. Sprachwissenschaft. 82002. Pokorny, J., Idg. etymologisches Wörterbuch. 1959-1969. Porzig, W., Die Gliederung des idg. Sprachgebiets. 1954. Schmitt-Brandt, R., Einführung in die Indogermanistik. 1998. Szemerényi, O., Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. 41990 [Neudruck 2005]. HB

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