Indogermanistik

22.12.2015 -  

[engl. Indo-European Studies, frz. linguistique indo-européenne, russ. индогерманистика, индоевропеистика]

 

Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Erforschung der historisch-genetischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen (lebenden oder aber erloschenen) idg. Sprachen bzw. Sprachfamilien und der ur-idg. Grundsprache beschäftigt, auf die diese Sprachen zurückführbar sind. Damit ist zugleich die Rekonstruktion des Phonemsystems und des lexikalischen und grammatischen Morphemvorrats (aber auch des Wortschatzes und, soweit möglich, der Syntax) dieser gemeinsamen Grundsprache (die nicht mit einer nur hypothetischen „Ursprache der Menschheit“ gleichzusetzen ist) eines der wesentlichen Arbeitsfelder der I. Da sie diese Rekonstruktion insbesondere mit der Methode des Vergleichs von einander entsprechenden Wortformen aus verschiedenen idg. Einzelsprachen und deren historischen Sprachstufen betreibt, wird die I. traditionell auch als Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft bezeichnet. Dieser Name kommt allerdings (genau genommen) nicht mehr ihr allein zu, da seit dem 19. Jh. auch die Geschichte anderer Sprachfamilien nach dem Vorbild der I. mithilfe der historisch-vergleichenden Rekonstruktions-Methode erforscht wird (Finnougristik, Semitistik u.a.m.).

Die Möglichkeit systematischer Erforschung des historisch-genetischen Zusammenhangs der idg. Sprachen eröffnete sich erst, als im Kontext der kolonialen Inbesitznahme Indiens durch England das Sanskrit in den Wahrnehmungshorizont europäischer Gelehrter rückte. Die fundamentalen Übereinstimmungen der Flexionssysteme des Sanskrit mit denen altüberlieferter europäischer Sprachen (insbes. Griechisch, Latein, Gotisch) wurden erstmals 1816 von Franz Bopp (1791-1867) systematisch beschrieben. Dieses Jahr gilt, obwohl Bopp teilweise an Erkenntnisse von Vorgängern anknüpfen konnte, als das Geburtsjahr der I. Ihre Fortentwicklung seit dem 19. Jh. ist einerseits durch den ständigen Ausbau ihrer empirischen Basis (Entdeckung weiterer idg. Sprachen bis ins 20. Jh. und deren Beschreibung in Grammatiken und Wörterbüchern) geprägt, andererseits durch die im Rahmen indogermanistischer Forschung betriebene Diskussion modelltheoretischer Konzepte (insbes. August Schleichers [1821-1868] im Geist des Darwinismus konzipiertes Stammbaum-Modell des Entstehens und Vergehens von Sprachen ( Stammbaum-Theorie), Johannes Schmidts [1843-1901] Wellen-Modell der geographischen Ausbreitung sprachlicher Innovationen, das von August Leskien [1840-1916] formulierte Prinzip der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze) und anderer theoretischer Entwürfe ( Laryngaltheorie, heute weitestgehend akzeptiert; Glottaltheorie). Die Gewinnung von Einsicht in die Phonologie, Lexik und Grammatik der ur-idg. Grundsprache ist nicht das einzige Arbeitsfeld der I. Eines ihrer besonderen Verdienste besteht darin, dass im Rahmen ihrer Forschungen auch „kleinere“ und abseits des Interesses der großen traditionellen Philologien liegende Sprachen (etwa: Albanisch, Armenisch, baltische, iranische Sprachen) lexiko- und grammatikographisch in den Blick genommen werden, so dass man auch außerhalb der betreffenden Sprach-Heimatländer an (manchen) Hochschulen Kenntnisse in solchen Sprachen und über sie erwerben kann. Insofern die Rekonstruktion des zentralen Wortschatzes der ur-idg. Grundsprache auch die Lebenswelt ihrer Sprecher erschließt (mit Aufschluss nicht nur über damalige Wirtschaftsformen [Ackerbau, Viehhaltung], Wohnbedingungen [Haus] und technische Entwicklung [z.B. Rad, Joch], sondern auch Zählvermögen, Familienstruktur [Verwandtschaftsbezeichnungen], Weltbild, Religion in ur-idg. Zeit), gewährt die I. Einblicke auch in solche mentalen Bereiche prähistorischer (jungsteinzeitlicher) Lebenswirklichkeit, die dem Zugriff archäologischer Forschung verschlossen sind.

Lit.: Arens, H., Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde. 1974. Meyer-Brügger, M., Indogermanische Sprachwissenschaft. 92010. Schmitt-Brandt, R., Einführung in die Indogermanistik. 1998. Szemerényi, O., Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. 41990, Nachdruck 2005. HB

 

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