Aorist

Formkategorie des Verbs, die sich bereits im Indoeuropäischen (→ Indogermanisch) findet und zu den Vergangenheitstempora gerechnet wird, obwohl sie „ursprünglich eher Aktionsarten […] bezeichnet haben dürfte […]“ (Schmidt 71996, 42). Besonders im Altgriechischen und vermutlich auch im Ur-Indogermanischen wurden diese Aktionsarten (→ Aktionsart) mit den Aspektkategorien (→ Aspekt) kombiniert, wobei jedoch von einer frühen Verbindung von Zeit- und Aktions- bzw. Aspektkategorie auszugehen ist. Sehr gut erhalten ist der A. im Altgriechischen (siehe 1.), findet sich aber auch im Altkirchenslawischen (→ Kirschenslawisch) sowie in einigen modernen Fremd- und Minderheitensprachen (siehe 2.) und in der von J.R.R. Tolkien geschaffenen Kunstsprache Quenya (siehe 3.)

  1. Während er noch im Alt-Sanskrit/Vedischen regelmäßig vorkommt (Whitney 1924, § 826), ist der A. bereits im klassischen Sanskrit vergleichsweise selten und kann ohne Bedeutungsverlust mit dem Imperfekt ausgetauscht werden. Häufig zu finden ist der A. dagegen im Altgriechischen. Hier tritt die „zeitliche Einordnung [des A., S.M.] ganz zurück hinter der Unterscheidung der sog. Aspekte, die den Verbalinhalt ‚betrachten‘ und kennzeichnen als etwas Andauerndes oder als etwas im Ergebnis Vorliegendes oder als etwas lediglich (d.h. ohne Rücksicht auf Dauer oder Ergebnis) zum Vollzug Kommendes“ (Bornemann/Risch 1973, 75), wobei der A. lediglich punktuell den Vollzug bzw. die Durchführung ins Auge fasst (also den Abschluss eines Verbalvorgangs ausdrückt und damit perfektiv ist), ohne den Verlauf oder das Ergebnis zu betrachten. Je nachdem aus welcher Perspektive die Betrachtung erfolgt, lassen sich folgende Aktionsarten (in der Grammatik oft auch als Aspekte bezeichnet) unterscheiden: a) effektiv: der Punkt des endgültigen Abschlusses wird betrachtet; b) ingressiv: der Punkt des „unmittelbar sich vollziehenden und damit sich abschließenden Beginns“ (Maier 1976, S. 72) wird betrachtet; c) komplexiv: der Vorgang wird als bestimmtes historisch abgeschlossenes Faktum betrachtet; d) gnomisch: beschreibt eine Handlung, die „sich an mehreren Punkten der Vergangenheit vollzog und sich demnach – der Erfahrung, der Erkenntnis gemäß – an jedem Punkt der Gegenwart oder Zukunft bestätigen kann“ (ebd., 73). Das lateinische Perfekt ist aus dem idg. Perfekt und dem idg. A. entstanden, worin seine Doppelnatur als präsentisches, historisches und gnomisches Perfekt begründet liegt. (Vgl. Rubenbauer/ Hofmann 51995, § 211)
  2. Für andere (moderne) Sprachen erfährt der grammatische Terminus A. eine uneinheitliche und teilweise widersprüchliche Verwendung. So wird der A. beispielsweise im Türkischen benutzt, um zeitlich nicht näherbestimmte Vorgänge zu bezeichnen. Er wird verwendet, um allgemeingültige Aussagen zu treffen, Fähigkeiten zu beschreiben und zum Ausdruck von Gewohnheiten oder regelmäßigen Handlungen. Daneben wird er benutzt zur Formulierung höflicher Fragen sowie zum Ausdruck von Möglichkeiten oder Hoffnungen. (Vgl. Moser-Weithmann 2001) Auch das Bulgarische kennt einen A. Hier ist er „das Erzähltempus für vergangene Handlungen, auch und vor allem – in Verbindung mit dem perfektiven Aspekt – für Handlungsreihen“ (Radeva 2003, S. 115f).
  3. Quenya ist „the earlier of his [J.R.R. Tolkiens, S.M] two chief invented Elvish languages“ (Leibiger 2007, Lemma: Qenyaqetsa), die „in der Zeit des Herrn der Ringe schon seit Jahrtausenden nicht mehr als Umgangssprache verwendet [wird]. Es ist eine erlernte Sprache, und sie […] wird verwendet zu rituellen Zwecken, für Inschriften, und sie ist die alte Sprache der Weisen“ (Pesch 2009, 27). Die Wurzeln liegen im Finnischen (vgl. ebd.) sowie in den antiken Sprachen. In Quenya bezeichnet der A. ein Tempus, das „hinsichtlich der Zeit völlig unmarkiert, also gewissermaßen zeitlos ist“ (ebd., 108). Er wird daher verwendet, um allgemeingültige Wahrheiten oder gewohnheitsmäßige (in Zeit und Dauer unbestimmte) Handlungen zu beschreiben und übernimmt demnach dieselbe Funktion wie der gnomische A. im Altgriechischen und das gnomische Perfekt im Lateinischen.

Lit.: Bornemann, E./Risch, E., Griechische Grammatik. 1973. Euler, W., Modale Aoristbildungen und ihre Relikte in den alteuropäischen Sprachen. 1992. Koschmieder, E., Zur Bestimmung der Funktionen grammatischer Kategorien. 1945. Leibiger, C.A., Qenyaqetsa: the Quenya Phonology and Lexicon. In: J.R.R. Tolkien Encyclopedia. Scholarship and Critical Assessment. Hrsg. von M.D.C. Drout. 2007. Maier, F., Die Version aus dem Griechischen. Ein grammatisches Begleitbuch für den Lektüreunterricht. 1976. Meiser, G., Veni Vidi Vici. Die Vorgeschichte des lateinischen Perfektsystems. 2003. Moser-Weithmann, B., Türkische Grammatik. 2001. Mottausch, K.-H., Untersuchungen zur Vorgeschichte des germanischen starken Verbs. Die Rolle des Aorist. 2013. Pesch, H.W., Das große Elbisch-Buch. 2009. Radeva, W., Bulgarische Grammatik. Morphologisch-syntaktische Grundzüge. 2003. Rubenbauer, H./Hofmann, J.B., Lateinische Grammatik. 12. korr. Aufl. 1995. Schmid, J., Ueber den gnomischen Aorist der Griechen. Ein Beitrag zur griechischen Grammatik. 1894. Schmidt, W., Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. 7. verb. Aufl. 1996. Smith, RR., Inside Language. Linguistic and Aesthetic Theory in Tolkien. 2007. Whitney, W.D., Sanskrit Grammar, including both, the classical Language and the older Dialects of Veda and Brahmana. 1924. SM

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