Abbildtheorien

Erkenntnis- bzw. zeichentheoretische Konzeptionen, die den Erkenntnisprozess und seine Resultate oder den → Satz ( Proposition) bzw. die → Satzbedeutung als Spiegelung oder Abbildung der Wirklichkeit (auch: Widerspiegelung; → Widerspiegelungstheorie) durch das erkennende bzw. sprechende Subjekt auffassen. 

  1. In erkenntnistheoretischen A. erscheinen Wahrnehmung und Erkenntnis als eine Art Reflex auf ein Subjekt, dessen Bewusstsein als (z. T. mehr oder weniger verzerrender oder gar determinierender) Spiegel gesehen wird, durch den ein mentales Abbild (griech. εικόνα ‘Bild, Gestalt˚; μίμη­μα ‘Nachahmung, Abbild’) bzw. eine → Abbildung als Vorstellung, → Begriff, Satz/Proposition, Modell oder Theorie des entsprechenden Wirklichkeitsbereichs erzeugt wird. A. haben semantische bzw. bedeutungstheoretische Relevanz, indem sie Aussagen über die Konstitution von → Bedeutung und den Wirklichkeitsbezug der Sprache machen (→ Bedeutungstheorien, → Sprache und Wirklichkeit). A. setzen immer einen ontologischen Realismus voraus, d.h. sie gehen davon aus, dass Gegenstände und Sachverhalte objektiv-real, also unabhängig von unserem Bewusstsein, existieren. Die phänomenalen bzw. mentalen Objekte und Attribute stellen ein Modell der realen Objekte der Außenwelt und ihrer realen Attribute dar. Haltbar scheinen nur solche A., in denen nicht Dinge der Außenwelt als Gegenstand der Erfahrung auftreten, sondern mentale Objekte oder Ideen (erkenntnistheoretischer Realismus vs. erkenntnistheoretischer Idealismus). Im ganzen jedoch beruhen Argumente für A. auf einer Nicht-Unterscheidung von beobachteten Dingen, Beobachtungen und beobachtenden Personen (v. Kutschera 1982, 191ff.). Morris (1975) bezeichnet die Theorie, dass Sprachen außersprachliche Objekte durch Wahrnehmen und Erkennen widerspiegeln bzw. abbilden oder mit ihnen isomorph sind (→ Isomorphie), als eine der ältesten und hartnäckigsten. Die Abbildung werde oft als eine dreifache betrachtet: Das Denken bzw. die Kognition bildet die Eigenschaften der Gegenstände ab, die gesprochene Sprache die mentalen Phänomene und nimmt schließlich abbildenden Bezug auf den Bereich der nichtmentalen Gegenstände. Unter semiotischem Aspekt liege das Problem allein darin, „dass die einzige relevante Korrelation zwischen Zeichen und anderen Gegenständen durch semantische Regeln gegeben ist“ (ebd., 48).
  2. In zeichentheoretischen (→ Semiotik) und sprachphilosophischen (→ Sprachphilosophie) A., wie sie v.a. im Logischen Positivismus des frühen 20. Jhs. entstanden, werden komplexe Zeichen, insbesondere Sätze, als Abbilder von Gegenstandskonstellationen in der Wirklichkeit vorgestellt. Nach L. Wittgensteins Tractatus machen wir uns von den Tatsachen Bilder (2.1), die „die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten“ (2.11) repräsentieren. Das Bild ist danach ein Modell der Wirklichkeit (2.12), wobei die Gegenstände im Bild durch die Bildelemente vertreten werden (2.13f.). Die abbildende Beziehung besteht aus den Zuordnungen der Elemente des Bildes und der Sachen (2.1514) bzw., im Falle des Satzes, der Namen und der durch sie repräsentierten Gegenstände (3.203ff.). Der Satz als Bild ist aber nicht Spiegel der Tatsachen, sondern von „Sachverhalten“, die wahr oder falsch sein können (4.1). In ihm „wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammengestellt“ (4.031) und wenn er wahr ist, entspricht ihm eine Tatsache. In der (Ab-)Bildtheorie der Satzbedeutung beruht die Möglichkeit des Satzes auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen (4.0312). Damit es möglich wird, dass ein Satz wahr oder falsch ist, muss im Satz etwas mit der Wirklichkeit identisch sein (Schriften I, 103). Ein → atomarer Satz ist ein Bild bzw. eine isomorphe Abbildung einer atomaren Tatsache.

→ Widerspiegelungsfunktion der Sprache.

Lit.: Hartmann, N., Metaphysik der Erkenntnis 1965. Kutschera, F. v., Grundfragen der Erkenntnistheorie. 1982. Lorenz, K., Zur Deutung der Abbildtheorie in Wittgensteins Tractatus. In: Teorema 2.1972. Meyer, M., Formale und handlungstheoretische Sprachbetrachtung. 1976. Morris, Ch. W., Grundlagen der Zeichentheorie. 21975. Müller, E., Das Abbildungsprinzip. 1912. Scheier, C.-A., Wittgensteins Kristall. Ein Satzkommentar zur „Logisch-philosophischen Abhandlung“. 1991. Stenius, E., Wittgensteins Tractatus. 1969. Ders., Die Bildtheorie des Satzes. In: Erkenntnis 9.1975. Stegmüller W., Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. 71989. Wittgenstein, L., Schriften I-VIII. 1960-1982. Ders., Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung. 2003. L/AB

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