Alteuropäische Hydronymie
Auch: Aeur. Gewässernamensystem. Jenes Netz von Gewässernamen (→ Hydronym) gleichen Bautyps, dessen Vorhandensein und Erstreckung über weite Teile Europas aufgrund der Ähnlichkeit mancher Flussnamen wie etwa Isar (⇒ Donau), Iser (⇒ Elbe, Riesengebirge) und Isère (⇒ Rhône) bisweilen auch Laien (wenn auch nur punktuell und schlaglichtartig) auffällt. Das System der A.H. ist dadurch charakterisiert, dass die zugehörigen, von Lettland und Russland bis Westfrankreich vorfindlichen Namen sich nicht durch Rückgriff auf das Morphem-Material einer einzigen der in diesem Areal heimisch gewesenen historischen Sprachgruppe (in Frage kämen Germanisch, Keltisch, Slavisch, Baltisch und auch Italisch) erklären lassen (denn das Baltikum z.B. hat nie zum keltischen Sprachgebiet gehört, die Normandie nie zum slavischen), dass sich aber die in Betracht stehenden Gewässernamen bei genauerer Analyse dennoch allesamt als aus idg. Elementen gebaut erweisen. Mit der idg. Wurzel *el-/*ol- ‘fließen, strömen’ etwa, die appellativisch z.B. in lett. aluots ‘Quelle’, lit. almaĩs ‘eilig, heftig’ vorkommt, sind u.a. folgende Flussnamen gebildet: *Al-a (> Ala, bei Jönköping, Schweden; Ola, ⇒ Beresina ⇒ Dnjepr; Ahle bei Uslar, ⇒ Schwülme ⇒ Weser); *Al-i-a (> Elle, ⇒ Roer); *Al-a-nt-a (> Alantà, mehrfach in Litauen); *Al-a-nt-os (> Aland, ⇒ Elbe); *Al-a-nt-i-a (> Elz, ⇒ Neckar); *Al-m-a (> Alma in Norwegen; Alm, ⇒ Oude Maas); *Al-m-ana (> Alme, ⇒ Lippe); mit anderer Ablautstufe der Wurzel: *El-m-ina (> Ilm, ⇒ Donau); außerdem *Al-m-a-nt-ia (> Aumance, ⇒ Cher, Frankreich); *Al-a-r-a (> Aller, ⇒ Weser); ablautend dazu: *El-i-ra (> Iller, ⇒ Donau). Diese kurze Liste enthält nur einen Bruchteil der tatsächlich vorhandenen mit *el-/*ol- gebildeten Namen. Entsprechende Flussnamenreihen lassen sich für zahlreiche weitere idg. Wurzeln aufzeigen, die allesamt Eigenschaften von Wasser bzw. Flüssen benennen: das Fließen, Strömen, Vorwärtsdrängen, Schäumen, Anschwellen (etc.), die klare, helle, trübe, schwarze, steinige (etc.) Beschaffenheit. Wie die Beispiele zeigen, sind nicht nur die verbauten Wurzeln idg., sondern auch die Derivationssuffixe, z.B. hier das idg. -nt-Suffix (in *Alanta, *Alantos, *Almantia), das appellativisch in den idg. Sprachen zur Bildung des Partizips Präsens verwendet wird (z.B. in Tangente ‘berührende Linie’ zu lat. tangere ‘berühren’).
Die durch H. Krahe um die Mitte des 20. Jhs. begründete und insbesondere von W.P. Schmid und J. Udolph fortgesetzte Erforschung der A.H. hat ergeben, dass das Netz der aeur. Gewässernamen sich über ein Gebiet erstreckt, das vom Baltikum und vom Don im Osten bis zur Atlantikküste im Westen reicht. Auf der Balkanhalbinsel wird Griechenland von der A.H. nicht mehr erfasst; soweit die Apennin-Halbinsel aeur. Namen besitzt (z.B. Reno bei Bologna, entspr. Rhein), ist dort mit Namenimport durch die einwandernden Italiker und Kelten zu rechnen. Auf den britischen Inseln und in Skandinavien kommen aeur. Gewässernamen vor. Nördlich der Alpen ist keine (vor-idg. bzw. nicht-idg.) Gewässernamenstruktur ermittelbar, die älter wäre als die A.H. Nach Krahes Ansicht war als Entstehungszeit der A.H. die Epoche nach dem Ausscheiden der Hethiter, Indo-Iraner und Griechen aus der idg. Siedlungsgemeinschaft, aber vor der Abwanderung der Italiker auf die Apennin-Halbinsel anzunehmen. Nach seinem Verständnis war die A.H. also Reflex einer historischen Sprachgemeinschaft der territorial an der A.H. beteiligten idg. Einzelsprachen Germ., Kelt., Balt., Slav., Ital. vor deren Selbständigwerden. Da es aber nie eine Neuerungs-Gemeinschaft der fünf genannten Sprachgruppen gegeben hat (weder phonologisch noch grammatisch noch lexikalisch) und da andererseits die lexikalischen Morpheme der aeur. Flussnamen appellativisch gerade in ost-idg. Sprachen (Heth., Indo-Iran., Griech.) gut bezeugt sind, ist nach Auffassung von W.P. Schmid (1994, 1995/96) die Sprache, auf deren Basis die AH entstanden ist, das Idg. selbst. Im oben genannten europäischen Bereich waren die Indogermanen die ersten Namengeber für die bis dahin noch gar nicht (oder fast nicht) benannten Gewässer, in den Ländern, in welche die nach Südosten abwandernden Hethiter etc. gelangten, trugen die Flüsse bereits Namen. Daher das fast völlige Fehlen idg.-aeur. Flussnamen in jenen Regionen.
→ Eigenname, → Onomastik
Lit.: Krahe, H., Unsere ältesten Flußnamen. 1964. Schmid, W.P., Alteuropäisch und Indogermanisch. In: Becker, J. et al. (Hrsg.), Linguisticæ scientiæ collectanea. Ausgewählte Schriften von W.P. Schmid. 1994 [Erstveröffentlichung 1968]. Schmid, W.P., Alteuropäische Gewässernamen. In: Eichler, E. et al. (Hrsg.), Namenforschung. Name Studies. Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. An International Handbook of Onomastics. Manuel international d'onomastique. 1. Teilbd. 1995/96, 756-762. Udolph, J., Altgermanische Hydronymie I. In: Beck, H./Steuer, H./Timpe, D. (Hrsg.), Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde. Studienausgabe. 1998, 267-271. HB