Vernersches Gesetz
Nach den Regeln der → Germ. Lautverschiebung wird idg. *t zu germ. þ, so z.B. auch im idg. Wort für ‘Bruder’ (griech. phrátēr, lat. frater, dagegen got brôþar). Beim gleichfalls t-haltigen Wort für ‘Vater’ (griech. patér, lat. pater) ist die an sich zu erwartende Entwicklung des idg. dentalen Okklusivs zu germ. þ jedoch nicht eingetreten; im Got. lautet das entsprechende Wort fadar. Die got. Differenz von þ zu d spiegelt sich im dt. Unterschied zwischen Bruder (d) und Vater (t) wider. J. Grimm hielt Irregularitäten dieser Art noch für letztlich unerklärbare Ausnahmen und nahm an, dass sich einige Wörter der germ. Sprachen den Regularitäten der Lautverschiebung hätten entziehen können. 1876 gelang es indessen dem Dänen Karl Verner zu zeigen, dass diese Ausnahmen von den Gesetzen der Lautverschiebung nicht willkürlich eingetreten sind, sondern ihrerseits wiederum auf Regeln beruhen. Nach Verners Erkenntnis hängt das genaue Resultat der Verschiebung der idg. stimmlosen Okklusive zu germ. Frikativen vom Sitz des Worttons im idg. (und auch noch urgerm.) Wortkörper des betreffenden Wortes ab. Wie in griech. phrátēr noch ablesbar, ging im idg. Vorläuferwort von got. brôþar der Wortton dem stimmlosen Okklusiv unmittelbar voraus, das ergibt germ. (got.) þ. Die Betonung von griech. patêr (Ton nach dem inlautenden Okklusiv) zeigt hingegen, dass die idg. (und noch urgerm.) Intonationsverhältnisse bei diesem Wort andere waren, daher got. d (< germ. *ð). Allgemeiner gesagt: Die idg. stimmlosen Okklusive *p, *t, *k werden im Germ. zu stimmlosen Frikativen f, þ, χ (h) nur dann, wenn sie entweder im Anlaut oder aber unmittelbar nach dem Wortton stehen. In allen anderen Fällen der Wortintonation werden sie zu den homorganen germ. Frikativen ƀ, đ, ǥ „weiterverschoben“, die in den meisten germ. Sprachen dann in die entsprechenden stimmhaften Okklusive b, d, g übergegangen sind. Ein Beispiel für die nach den Regeln des Vernerschen Gesetzes vollzogene „Weiterverschiebung“ des labialen Okklusivs idg. *p bietet die dt. Präposition über, die der griech. Präposition hypér (Wortton nach dem p) entspricht. (Ohne die Gültigkeit von Verners Gesetz müsste die dt. Präposition heute *üfer heißen.) Der Phonemopposition germ. (stimmlos) f, þ, χ : germ. (stimmhaft) b, d, g, die aufgrund der von Verner entdeckten Regularitäten entstanden war, schloss sich in germ. Zeit noch das (stimmlose) s mit seinem (stimmhaften) Pendant r (< germ. z) an; heutige Beispiele hierfür: engl. was : engl. were, dt. erkiesen : dt. Kür. Besonders augenfällig sind die Ergebnisse des Lautwandels, den das V. G. beschreibt, in den Tempusstämmen mancher dt. starken Verben (z.B. schneiden : geschnitten), dort als → Grammatischer Wechsel bezeichnet.
Verners Entdeckung lehrt im übrigen, dass in der Geschichte der Ausdifferenzierung des späteren → Germ. aus der übrigen Indogermania die – für den Abbau der germ. Flexionssuffixe so folgenreich gewordene – Festlegung des Wortakzents auf die Wurzelsilbe eine jüngere Erscheinung sein muss als der Vollzug der Germ. Lautverschiebung. In der ersten („urgerm.“ genannten) Epoche der Geschichte des Germ. muss der Wortakzent noch, wie in uridg. Zeit, nach bestimmten Regeln beweglich gewesen sein. Wissenschaftsgeschichtlich ist Verners Gesetz eines der prominentesten Beispiele für das Bestreben der junggrammatischen Sprachwissenschaft (→ Junggrammatik) zu zeigen, dass die „Gesetze“ der historischen Sprachwissenschaft, wie die der Naturwissenschaften, ausnahmslose Gültigkeit besäßen und dass auch scheinbare Ausnahmen (sofern sie nicht Analogiebildungen sind) als in sich regelhaft erklärbar sein müssten.
→ Okklusiv, → Frikativ, → homorgan
Lit.: Krahe, H., Germanische Sprachwissenschaft. 41969. Rooth, E., Das Vernersche Gesetz in Forschung und Lehre. 1954. Szemerényi, O., Einführung in die vergleichende Sprachforschung. 41990. Verner, K., Eine Ausnahme der ersten Lautverschiebung. In: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 23.1876. HB