anaphorisch

In der → Textlinguistik die Eigenschaft einer für die → Textkonstitution verantwortlichen Form, auf sprachliche Elemente im vorangegangenen → Text (auch Satz) zurückzuverweisen. Die spezifische Leistung anaphorischer Ausdrücke besteht darin, den referentiellen Zusammenhang eines Textes herzustellen, und zwar durch referenzidentische Wiederaufnahme von Ausdrücken der vorangegangenen Texteinheit. Beispiel: ...ein König. Der hatte drei Töchter. Diese hießen .... Eines Tages hatten sie ... Wesentlich ist, dass sich die anaphorischen Ausdrücke auf dieselben → Referenten beziehen wie die zuvor verwendeten Bezugsausdrücke (→ Koreferenz); d.h. zugleich, dass die wiederaufnehmenden Ausdrücke ohne den Bezug auf ihren Vorgängerausdruck (→ Antezedens) keine Bezeichnungsfunktion haben, also referentiell ,leer‘ sind. In der Textgrammatik wird der Vorgängerausdruck (bzw. das Textanfangselement) als → Substituendum bezeichnet, der Nachfolgerausdruck als → Substituens. Zu den Substituentia (= anaphorischen Ausdrücken) zählen alle Pro-Formen (→ Pro-Form), d.h. sprachliche Ausdrücke, die stellvertretend für einen nominalen Ausdruck stehen; das sind die als → definit verstandenen Elemente aller Klassen von → Pronomen (mit Ausnahme derjenigen mit deiktischer Funktion: ich, du, wir, ich (→ Deixis, → deiktischer Ausdruck). In den artikelhaltigen Sprachen rechnet man zu den Pro-Formen außerdem die bestimmten → Artikel. Als Pro-Formen fungieren auch alle Adverbien (→ Adverb) und adverbialen Syntagmen, die auf einzelne Elemente (Referenten) der → Proposition eines Vorgängersatzes, auf die Proposition als Ganzes oder auf ein Cluster von Propositionen des vorhergehenden Textes Bezug nehmen (→ Anaphorisierung; → Pronominalisierung): da, so, außerdem (u.ä.), dazu die große Gruppe der → Pronominaladverbien wie darum, hierauf, wogegen u.ä. Sie können als anaphorische Ausdrücke fungieren, weil in ihnen – implizit oder explizit – ein „echtes“ Pronomen enthalten ist (z.B. anaphorisches da ist äquivalent an dieser Stelle oder in diesem Augenblick usw.; anaphorisches so ist äquivalent auf diese Weise, in diesem Sinne usw., anaphorisches darum entspricht semantisch aus diesem Grund, wegen dieses Umstands usw.).

Die mit den Pro-Formen verbundenen Appellativa (→ Appellativum) können mit den Vorgängerausdrücken lexikalisch identisch sein (z.B. ein König – der/dieser König), sie können auch Hyperonyme (→ Hyperonym, → semantische Implikation) in aufsteigender Linie sein (ein König – der Herrscher – dieser Mann); in Verbindung mit den anaphorischen Pronomen (und Artikeln) stehen sie jeweils in referenzidentischer Relation mit den Vorgängerausdrücken. Von der Reihenfolge – Hyperonyme in aufsteigender Linie, d.h. mit zunehmendem Abstraktionsgrad – wird in der Regel nicht abgewichen (es sei denn aus stilistischen Gründen), da sonst die Referenzidentität zwischen den Bezugsausdrücken in Frage gestellt ist; vgl. * ein Tier - das Pferd (?) - der Schimmel (?) anstelle von ein Schimmel - das Pferd - das Tier.

Nach Harweg (zuerst 1968) wird die → Textkohäsion, d.h. die grammatische Verknüpfung der Textkonstituenten an der Oberfläche, nicht nur durch Pro-Formen mit referenzidentischer → Wiederaufnahme hergestellt, sondern auch durch Ausdrücke, deren Referenten in → Kontiguität zu den Vorgängerausdrücken stehen, z.B. eine kleine Stadtder Bahnhof – auf demMarkt. Die für die Textkonstitution relevante Kontiguität ergibt sich aus dem semantischen „Nachbarschafts-“ bzw. „Berührungsverhältnis“ der Denotate dieser Ausdrücke, das jedoch oft nur durch das Weltwissen der Textteilnehmer erschlossen werden kann. Harweg unterscheidet vier Klassen von Kontiguitätsverhältnissen:

  1. logisch begründete Kontiguität (eine Frage die Antwort),
  2. ontologisch begründete Kontiguität (ein Baum – der Stamm – die Blätter);
  3. kulturell begründete Kontiguität (ein Haus – die Fenster);
  4. situationell begründete Kontiguität (ein Schriftsteller – [schon] der Knabe). (Vgl. auch Brinker/Cölfen/Pappert 2014, )37f.

Durch Kontiguität bedingte Wiederaufnahme stellt einen Grenzfall zwischen Textkohäsion und → Textkohärenz, der textsemantischen Verbindung der Elemente, dar.

Seit Brugmann (1904) wird die Frage der Herkunft und Entwicklung anaphorischer Ausdrücke diskutiert, v.a. auch vor dem Hintergrund der Existenz artikelhaltiger und artikelloser Sprachen. Für Bühler (1934) liegt die Erklärung nahe, dass die anaphorischen Pronomen eine historisch späte Erscheinung darstellen. Er sieht die → Textphorik als ein Derivat der Deixis („[...] als man lernte, den werdenden Kontext selbst zum Zeigfeld zu machen“; Bühler 1982, 415), betrachtet die anaphorischen Ausdrücke entsprechend als abgeleitete Formen sprachlichen Zeigens. Die meisten neueren Ansätze bevorzugen eine theoretische Trennung zwischen Deixis und Textphorik, mit dem Argument, dass deiktische Ausdrücke situationsgebunden, d.h. unmittelbar auf den Wahrnehmungsraum des Äußerungsaktes (Sprecherperson; Sprechzeitpunkt; Sprechort) bezogen sind, während die anaphorischen Ausdrücke nur für die (referentielle) Konstitution des Textes verantwortlich und situationsentbunden sind.

→ Anapher, → Katapher, → kataphorisch

Lit.: Brinker, K./Cölfen, H./Pappert, St., Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 8., neu bearb. u. erw. Aufl. 2014 (= Grundlagen der Germanistik 29). Brinker, K./Antos, G./Heinemann, W./Sager, S.F. (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd. 2000Brugmann, K., Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen. Berichte über die Verhandlungen der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, 22, H. 6, 1904. Bühler, K., Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 1934. Coseriu, E., Textlinguistik. Eine Einführung. 21981. Danes, F./Viehweger, D. (Hrsg.), Probleme der Textlinguistik. 1976. Dijk, T.A. van, Textwissenschaft. 1980. Dressler, W.-U./Beaugrande, R.-A. de, Einführung in die Textlinguistik. 1981 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28). Ehlich, K., Deiktische und phorische Prozeduren beim literarischen Erzählen. In: Lämmert, E. (Hrsg.), Erzählforschung. 1982, 112-129. Gülich, E./Raible, W., Linguistische Textmodelle. 1977. Harris, Z.S., Discourse Analysis. In: Lg 28.1952, 1-30. Harweg, R., Pronomina und Textkonstitution. 21979. Hasan, R., Cohesion in English. 1976. Kallmeyer, W. u.a., Lektürekolleg zur Textlinguistik. 41986. Kalverkämper, H., Orientierungen zur Textlinguistik. 1981. Kreimann, J./Ojeda, A.E., Pronouns and Anaphora. 1980. Levinson, St.C., Pragmatik. 32000. Linke, A./Nussbaumer, M./Portmann, P.R., Studienbuch Linguistik. 52004 (= Reihe Germanistische Linguistik 121). Sowinski, B., Textlinguistik. Eine Einführung. 1983. Stempel, W.-D. (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik. 1971. Thrane, T., Referential-Semantic Analysis. Aspects of a Theory of Linguistic Reference. 1980. Vater, H., Proformen des Deutschen. 1975. Ders., Einführung in die Textlinguistik. 1994. JV

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