Grammatischer Wechsel
[engl. grammatical change/alternation, frz. alternance grammaticale, russ. грамматическое чередование]
Ergebnis von Lautwandelprozessen mit Einfluss auf die grammatische Formenbildung. Aufgrund der Lautwandel-Regularitäten, die teils von den Gesetzen der Germanischen Lautverschiebung, teils vom Vernerschen Gesetz beschrieben werden, entstehen aus den idg. stimmlosen Okklusiven *p, *t, *k im Germ. je nach dem Sitz des Worttons entweder die stimmlosen Frikative f, þ, χ oder aber die stimmhaften Frikative ƀ, đ, ǥ, die sich dann zu den entsprechenden stimmhaften Okklusiven b, d, g weiterentwickeln. Dieser Entwicklung angeschlossen hat sich germ. s, das entsprechend dem Vernerschen Gesetz zu r wird. In den germ. Sprachen führt dies zur Entstehung von Allomorphie (→ Allomorph) von Wortstämmen, insbesondere beim starken Verbum (z.B. nhd. schneid-en gegenüber wir schnitt-en, geschnitt-en), aber auch bei stammverwandten Substantiven (ahd. zeh-an ‘10’ gegenüber ahd. -zug ‘Zehnereinheit’; vgl. noch heute zehn [mit fortwährend geschriebenem h] gegenüber zwanzig [mit g]). Den so entstandenen Phonem- bzw. Allomorph-Wechsel bei wurzelverwandten Wortformen bezeichnet man als Grammatischen Wechsel. Im Got. wird der Grammatische Wechsel durch analogischen Ausgleich früh beseitigt; in den westgerm. Sprachen des Mittelalters ist er dagegen relativ gut bewahrt. Einige Beispiele aus dem Ahd. (in Klammern die germ. lautlichen Vorstufen):
1. | f : b | durfan ‚bedürfen‘ | : |
darbên ‘darben’ |
2. | d (< germ. þ) : t (< germ. d) | lîdan ‘gehen’ | : |
gilitan ‘gegangen’ |
3. | h : g | ziohan ‘ziehen’ | : |
gizogan ‘gezogen’ |
3.a | h (< germ. hw) : w (< germ. gw) | aha ‘Fluss’ | : |
ouwia ‘Aue’ |
3.b | h (< germ. nh) : ng | fâhan ‘fangen’ | : | gifangan ‘gefangen’ |
4. | s : r | kiosan ‘wählen’ | : | gikoran ‘gewählt’ |
Auf dem Weg vom Ahd. zum heutigen Nhd. ist der Grammatische Wechsel in vielen Fällen durch Analogiebildungen (→ Analogiebildung )ausgeglichen worden und damit verschwunden. So ist z.B. an die Stelle des ahd. Infinitivs fâhan nach dem Muster des Part. Prät. gifangan der nhd. Infinitiv fangen getreten. In umgekehrter Richtung ist der Ausgleich beim Verbum gedeihen (< ahd. githîhan ‘geraten, Fortschritte machen’, Part. Prät. githigan ‘wohlgeraten’) verlaufen. Das Partizip hat sich hier dem Infinitiv angeglichen (nhd. gediehen), und die lautlich ursprünglichere Partizipialform gediegen ist zum Adjektiv mit eigener Bedeutung geworden: ‘solide, echt, dauerhaft’, norddt. auch ‘eigenartig, komisch’ (Das ischa gediegen). Bis heute erhalten hat sich der Grammatische Wechsel in Wortform-Entsprechungen wie leiden-gelitten, schneiden-geschnitten-Schneide-Schnitt, (kiesen)-auserkoren-Kurfürst-Kür (dazu nd. kiesefrätsch ‘mäkelig beim Essen’), ziehen-gezogen-Zug-Herzog, ostfäl. nd. (ik) was-(wi) weren.
→ Germanische Lautverschiebung, → Lautwandel, → Vernersches Gesetz
Lit.: Braune W./Reiffenstein I., Althochdeutsche Grammatik, 152004. Schaffner, St., Das Vernersche Gesetz und der innerparadigmatische grammatische Wechsel des Urgermanischen im Nominalbereich. 2001. HB