Inkorporation
[engl. incorporation, frz. incorporation, russ. инкорпорация] (mlat. incorporare ‘in einen Körper einfügen’)
1. ein spezifischer Wortbildungsprozess.
1.1 In der neueren Literatur wird darunter zumeist eine spezielle → Univerbierung gefasst, bei der eine syntaktische Fügung aus einem Verb und einem seiner Argumente (→ Argument), auch einem Teil eines seiner Argumente, zu einem komplexen Wort, meist einem Verb, zusammenwächst. D.h., ein verbaler → Stamm schreib(en), sprech(en), leist(en) inkorporiert auf der Basis eines Grammatikalisierungsprozesses z.B. einen nominalen Stamm (Kopf, frei) bzw. eine → Stammgruppe(Gewähr), wodurch in der Regel ein neues komplexes Verb (kopfstehen, freisprechen, gewährleisten) entsteht.
1.2 Manchmal ist mit I. auch eine spezielle → Komposition (vgl. Olsen 1996) gemeint, die sich dadurch auszeichnet, dass ein frei vorkommendes → Morphem (krank, schwarz, über) mit einem Verb kombiniert wird (krankschreiben, schwarzarbeiten, überstreichen). Die I. ist ein im Deutschen im Vergleich zu anderen Sprachen (z.B. Grönländisch, Komantschisch, Tonganisch) eher seltener vorkommendes → Wortbildungsmodell.
2. wichtigstes Merkmal des polysynthetischen bzw. inkorporierenden Sprachtyps (→ Sprachtyp). Sprachen dieses Typs (z.B. Indianersprachen der amerikanischen Nordwestküste) zeichnen sich dadurch aus, dass ihre komplexen syntaktischen Einheiten nach dem Prinzip der „Einverleibung“ (vgl. W. v. Humboldt 1836, §15, §17), d.h. der Inkorporierung, sehr vieler elementarer syntaktischer Einheiten, meist syntaktischer Wörter, in ein einziges hoch komplexes Wort gebildet werden. Diesbezüglich wäre es also möglich, von einer „wortinterne(n) Syntax“ (Dürr/Schlobinski 2006, 116) zu sprechen, was letztendlich einer Entgrenzung der Wörter gleichkäme (vgl. Di Cesare, 1998 122). Nach D. Wunderlich können beim inkorporierenden Sprachtyp zum einen Verb, Subjekt und Objekte zu einem Wort vereinigt sein [Nahuatl (Aztekisch): ni-mits-te:-tla-maki-lti:-s´ = ‘Ich werde jemanden veranlassen, dir etwas zu geben’], zum anderen Verben seriell zu einem Wort verbunden werden [Yimas (Papua-Neuguinea): na-mpi-mampi-kwalca-mpi-tay-ɲcut = ‘Die beiden standen wieder auf und sahen auch ihn wieder aufstehen’] oder es kann auch ein Verb Substantive und Adjektive in sich integrieren [Tschuktschi (Sibirien) tǝ-tor-tanY-pǝlwǝntǝ-pojgǝ-pela-rkǝn = ‘Ich lasse einen guten neuen metallenen Speer zurück’]. (Vgl. Wunderlich 2015, 227)
Lit.: Eisenberg, P., Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 42013. Di Cesare, D., Einleitung. In: Humboldt, W.v., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. 1998, 9-131. Dürr, M./Schlobinski, P., Einführung in die deskriptive Linguistik. 32006. Haugen, J.D., Incorporation. In: Müller, P.O./Ohnheiser, I./Olsen, S./Rainer, F. (eds.), Word-Formation. An International Handbook of the Languages of Europe. Vol. 1. 2015, 413-433. Humboldt, W. v., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. 1836. Mithun, M., The evolution of noun incorporation. In: Language 60.1984, 847–894. Wurzel, W. U., Inkorporierung und ,Wortigkeit‘ im Deutschen. In: Tonelli, L./Dressler, W. U. (eds.), Natural Morphology: Perspektives for the Nineties. 1994, 109-125. Olsen, S., Über Präfix- und Partikelverbsysteme. In: Simeckova, A./Vachkova, M. (Hrsg.), Wortbildung – Theorie und Anwendung. 1996, 111-137. Wunderlich, D., Sprachen der Welt. 2015. KS