Isotopie

[engl. isotopy, frz. isotope, russ. (семантическая) изотопия] (griech. ἰσοσ ‘gleich’ und τόπος ‘Ort’)

Ein auf A.J. Greimas (1966) zurückgehender, aus der Chemie in die → Textlinguistik übertragener Begriff, der eine auf semantischer Teil-Äquivalenz beruhende Bedeutungsrelation zwischen den Lexemen eines Textes bezeichnet und definiert wird als wiederholtes Erscheinen von Semen (→ Sem, → Semrekurrenz) in den aktualisierten Teilbedeutungen (→ Semem) von verschiedenen lexikalischen Einheiten des Textes (z.B. Der Großvater... der alte Herr ... er...der Graukopf usw.). Zu den Formen der Bildung von I.-Ketten gehören die einfache Wiederholung, variierte → Wiederaufnahme (durch Synonyme FahrerFahrzeugführer, Hyperonyme Fahrer – Verkehrsteilnehmer, Antonyme FahrerFußgänger, Paraphrasen FahrerHeld der Landstraße) und die → Pronominalisierung (Fahrerer).

Aus den verbundenen Lexemen eines Textes entsteht eine I.-Kette (→ Topikkette), die durch Aneinanderreihung weiterer Ketten in einem Text ein I.-Netz bildet. Anhand der Anzahl der I.-Ebenen zeigt sich die thematische Komplexität eines Textes. Im weiteren Sinne beinhaltet I. auch die Wiederholung syntaktischer oder phonologischer Konstituenten (vgl. Rastier 1974, 157 ff.). I.ketten bieten dem Rezipienten im Verstehensprozess Bedeutungszusammenhänge, indem sie mögliche polyseme Lexikoneinheiten monosemieren (→ Monosemie). Die I. wird  in der → Textsemantik als wichtige Basis zum Erzeugen und Verstehen von → Textkohärenz und der Konstitution des Textthemas betrachtet und ist Bestandteil jeder semantisch orientierten Textdefinition.

Rastier erweitert den Begriff der I. auf die Ausdrucksebene, denn er nennt auch lexikalische, syntaktische und phonematische Isotopien und schafft damit eine „Stilistik der Isotopien“. Inhaltsisotopien unterscheidet er in „klassematische“, „semiologische“ und „semantische“ Isotopien, die semiologischen wiederum in „horizontale“ (sememische) und „vertikale“ (metaphorische).

„Klassematische“ Isotopien werden durch Klasseme aufgebaut, auch →  lexikalische Solidaritäten genannt. Rastier veranschaulicht dies an dem polysemen Lexem cuisiniére: Semem1 ‘Köchin’ und Semem2 ‘Kochherd’ gehören zum gleichen semantischen Feld, unterscheiden sich aber durch die klassematische Opposition ‘animé’ vs. ‘non-animé’. Sememische („horizontale“) Isotopien entstehen innerhalb eines Textes. Mithilfe der Zugehörigkeit von Sememen zu semantischen Feldern, schließen sich die Sememe zu verschiedenen Isotopien zusammen. Beispiele, in denen die Sememe, die unterschiedlichen semantischen Feldern angehören, zu einer I. zusammengefasst werden, sind als metaphorische („vertikale“) Isotopien zu bezeichnen. Horizontale I. sind für die Darstellung thematischer Textstrukturen bedeutsam, die gleiche Seme in verschiedenen Sememen (Sememfeldern) als Bedingung haben, und können im Rahmen lexikalischer Felder aufgezeigt werden können. Wenn in Texten, wie z.B. literarischen, I.verflechtungen (komplexe Isotopien) erscheinen, sind mehrere Lesarten (= horizontale Isotopien) möglich, denn einen Text könnte man unter politischem, ökonomischem oder literarischem Gesichtspunkt analysieren (→ Polysemie).

→  Text, → lexikalische Semantik

Lit.: Adamzik, K., Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2016. Greimas, A.J., Strukturale Semantik. Methologische Untersuchungen. 1971. Heibert, F., Das Wortspiel als Stilmittel und seine Übersetzung. Am Beispiel von sieben Übersetzungen des „Ulysses“ von James Joyce. 1993. Heinemann, W., Das Isotopiekonzept. In: Brinker, K., Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2000, 54-64. Heinemann, W./Viehweger, D., Textlinguistik. Eine Einführung. 1991. Kallmeyer, W./Klein, W./Meyer-Hermann, R./Netzer, K./Siebert, H.J., Lektürekolleg zur Textlinguistik. Bd. 1: Einführung.  41986, 143-161. Rastier, François, Systematik der Isotopien. 1974. Sowinski, B., Textlinguistik. Eine Einführung. 1983. HLD

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