Abduktion
Nach dem amerikanischen Zeichentheoretiker C.S. Peirce ein drittes Verfahren syllogistischen (→ Syllogismus) Schlussfolgerns neben → Deduktion und → Induktion. Während bei der Deduktion mit Hilfe eines Mittelbegriffs von einer bekannten Regel über einen Fall auf ein Resultat geschlossen wird, ist die Induktion der Schluss von Fall und Resultat auf die Regel. Die A., die von ihrem Entdecker ursprünglich auch „Hypothese“ genannt wurde, ist hingegen der Schluss von Regel und Resultat auf einen Fall, genauer: vom Resultat auf die Regel und von dort auf den Fall. Zur Verdeutlichung aller drei Schlussverfahren benutzt Peirce das folgende Beispiel:
Deduktion
Regel. - Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.
Fall. - Diese Bohnen sind [Bohnen] aus diesem Sack.
... Resultat. - Diese Bohnen sind weiß.
Induktion
Fall. - Diese Bohnen sind [Bohnen] aus diesem Sack.
Resultat. - Diese Bohnen sind weiß.
... Regel. - Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.
Hypothese
Regel. - Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.
Resultat. - Diese Bohnen sind weiß.
... Fall. Diese Bohnen sind [Bohnen] aus diesem Sack. (Peirce 1976, 2.623)
Während die Induktion die reine Umkehrung der Deduktion ist, beginnt die A. mit einer auf der Basis einer Einzelwahrnehmung aufgestellten Regelhypothese und schließt über das Resultat auf den Fall. Sie „kann als ein Schluss definiert werden, der von der Annahme ausgeht, dass eine Eigenschaft, von der man weiß, dass sie notwendig eine gewisse Zahl von anderen impliziert, mit Wahrscheinlichkeit von jedem Gegenstand ausgesagt werden kann, der all die Eigenschaften hat, von denen man weiß, daß diese Eigenschaft sie impliziert.“ (Ebd., 5.276) Ein gutes Beispiel findet sich Peirces Bericht über eine Reise in die „türkische Provinz“. Beim Besuch eines Hauses in der Türkei habe er einen Mann auf einem Pferd getroffen, der von vier Reitern umgeben gewesen sei, die einen Baldachin über seinen Kopf gehalten hätten. „Da der Gouverneur der Provinz die einzige Person war, von der ich mir denken konnte, dass sie so hoch geehrte wurde, schloß ich, daß es der Gouverneur war. Das war eine Hypothese.“ (Peirce 1976, 2.625) In ähnlicher Weise zieht William von Baskerville in Ecos Roman Der Name der Rose (1986, 34f.) aus der Beobachtung, dass der Cellerar persönlich an der Pferdesuche teilnimmt, den (relativ gewagten) Schluss, dass es sich bei dem Gesuchten um das Pferd des Abtes handeln muss.
Die A. ist eine näherungsweise Erkenntnis, die wahrgenommene Zeichen (zu denen auch die Sinnesdaten gehören) in selber zeichenhafte Regelhypothesen übersetzt, aus denen Schlussfolgerungen gezogen werden. Sie kann deswegen als das semiotische Schlussverfahren bezeichnet werden, weil jedes Zeichenerkennen und jedes Bedeutungsverstehen ein hypothetisches, gleichsam probeweises ist. U. Eco hat vier Arten unterschieden: die „übercodierte“, die „untercodierte“, die „kreative“ und die „Meta-Abduktion“. (1985, 66ff., 1985a, 299ff.; 1987, 183ff.) Besonders bei der „über-„ und der „untercodierten“ A. wird dies deutlich, denn jedes Zeichenerkennen ist Erkennen des Types (→ Type) zu einem vorgefundenen → Token, und jedes Bedeutungsverstehen ist die aktuelle Entscheidung für eine in der Langue kodifizierte Bedeutungsvariante. Wer etwa einen Bodenabdruck als eine Hufspur oder eine Lautkette als ein Wort identifiziert, stellt eine hypothetische Regel auf, unter die er den Einzelfall subsumiert: Dies ist ein Bodenabdruck; alle Bodenabdrücke dieser Art sind Hufspuren von Pferden, also ist dies die Hufspur eines Pferdes. Und auch wer eine → aktuelle Bedeutung als Teil einer → lexikalischen Bedeutung versteht, kommt am abduktiven Schluss nicht vorbei: Pferd wird hier im Kontext einer Sporthalle gebraucht; alle Verwendungen von Pferd im Kontext von Sporthallen bedeuten ein bestimmtes Turngerät, also ist hier mit Pferd ein bestimmtes Turngerät gemeint. Während aber beim Erkennen von Sprachzeichen in der Regel nur die weitgehend automatisierten „übercodierten“ Abduktionen zu leisten sind, werden bei der Deutung von Spuren „untercodierte“, zuweilen sogar „kreative“ oder „Meta-„Abduktionen erforderlich.
Eben weil sie den Rekurs auf eine hypothetisch aufgestellte Regel einschließt, bleibt die A. – im Gegensatz zu ihren Schwestern: Deduktion und Induktion – trotz ihrer Bedeutung für → Semiotik und Zeichengebrauch ein auf relativ schwachen Füßen stehendes Schlussverfahren.
Lit.: Burkhardt, A., Die Semiotik des Umberto ,von Baskerville‘. In: Ders./Rohse, E. (Hrsg.), Umberto Eco – Zwischen Literatur und Semiotik. 1991, 29-89. Burks, A.W., Peirces’s Theory of Abduction. In: Philosophy of Science, 13.1946, 301-306 (http://people.ucsc.edu/~ktellez/abduction.pdf). Eco, U., Semiotik und Philosophie der Sprache. 1985. Ders., „Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionstypen.“ In: Ders./Sebeok, Th. A. (Hrsg.), Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce. 1985, 288-320. Eco, U., Der Name der Rose. 1986. Ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. 1987. Peirce, C. S., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. 1991. Richter, A., Der Begriff der Abduktion bei Charles S. Peirce. 1995. Schurz, G., Die Bedeutung des wissenschaftlichen Schließens in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Philosophie/Theoretische_Philosophie/Schurz/papers/1995c.pdf). AB