Argumentationsanalyse

Methodisches Verfahren zur Rekonstruktion der logischen bzw. argumentativen Struktur einer komplexen Äußerung (eines Textes, Gesprächs oder Text- bzw. Gesprächsausschnitts). Das Toulminsche Schema (vgl. Toulmin 1996, 32f., 139ff.) der A. mit den inzwischen einschlägig erprobten Kategorien wird seit den 1970er Jahren in der Literatur rezipiert und ist seither oftmals adaptiert worden (Habermas 2011; Kienpointner 1983; Kopperschmidt 1989):

argumentation abb3

 „Argumentation definiert sich diesem Schema zufolge als ein rationales Verfahren, das den problematisierten Geltungsanspruch (GA) einer Äußerung (,claim‘) innerhalb eines kohärenten Systems funktionalisierter Äußerungen so zu rekonstruieren versucht, dass der problematisierte GA als K (,conclusion‘) aus D (,data‘) aufgrund einer durch S (,backing‘) gestützten SR (,warrant‘) mit einem durch = (,qualifier‘) gekennzeichneten Grad an immanenter Zustimmungsnötigung innerhalb bestimmter, durch AB (,rebuttal‘) angegebenen Geltungsbegrenzungen abgeleitet und so die Berechtigung des betreffenden GAs rational eingelöst werden kann. Die verschiedenen argumentativen Funktionsträger sind freilich nur selten an der Oberflächenstruktur ihrer sprachlichen Formulierung erkennbar; sie müssen meistens erst durch eine entsprechende Rollenanalyse als solche identifiziert werden“ (Kopperschmidt 1989, 130).

Wenn z.B. der Sprecher (A1) behauptet: Morgen beginnen die Filmfestspiele, kann der Hörer (B1) entweder den Kommunikationsprozess fortsetzen und fragen, welche Stars denn zu erwarten seien, oder er provoziert einen Diskurs durch die Geltungsfrage Bist du dir sicher? Und zweifelt die Verlässlichkeit der Information an. A1 müsste – Toulmins Terminologie folgend – nun eine informative Äußerung, ein „Datum (D)“, angeben, einen Grund, um den Wahrheitswert abzusichern: (A2) Ein Mitglied der Jury hat es mir persönlich gesagt. Diese Rechtfertigung enthält zugleich eine allgemeine Annahme, eine Regel (SR), die das Datum dieser Argumentation legitimieren soll, indem präsupponiert (Präsupposition) wird: ‘Mitglieder der Jury sind mit dem unmittelbaren Geschehen besonders vertraut’. Wenn (B) auch den Geltungsanspruch dieser Äußerung bezweifelt, muss (A) ihn stützen, das heißt, (A2) verliert seine Rolle als „Datum“ und müsste selbst durch ein „Datum“ gestützt werden. Der Übergang eines „Datums“ (D) auf eine „Konklusion“ (K) kann aber nachdrücklicher werden, wenn die „Schlussregel (SR)“ durch einen „Modaloperator (O)“ gerechtfertigt wird: (A3) Es ist unzweifelhaft, da es mir ein Mitglied der Jury persönlich gesagt hat. Lediglich „Ausnahmebedingungen (AB)“ würden von der „Schlussregel (SR)“ nicht berücksichtigt werden können wie Da er seit 6 Monaten in den USA lebt, hat ihn die Terminveränderung nicht erreicht. Die oben skizzierte Toulminsche Mikroanalyse bildet auch die Grundlage für die mikrostrukturelle Analyse von Kopperschmidt (1989). In einem 1. Schritt der funktionalen Argumentations- bzw. Rollenanalyse werden Äußerungen als argumentative Funktionsträger entsprechend der Toulminschen Terminologie spezifischen Rollen zugewiesen. Der 2. Schritt der argumentativen Mikroanalyse ist die materiale A.: „D.h.: argumentativ verwendete Äußerungen sind nicht nur funktional definiert durch die spezifischen Rollen, die sie im System der Argumentation jeweils spielen, sondern material durch ihre Zugehörigkeit zu einem [...] als ,SY‘ symbolisierten kategorialen Sprachsystem: p, weil q aufgrund von SR in SY. Die Rekonstruktion des kategorialen Sprachsystems, dem eine Problemreflexion immer schon angehört, ist Aufgabe der materialen Argumentationsanalyse.“ (Kopperschmidt 1989, 143) Argumente funktionieren demnach nur innerhalb eines bestimmten Problemverständnisses, sind bereichs- oder feldabhängig. Solche Bereiche können etwa der ethische, der juristische, der religiöse oder der politische Bereich sein. Kopperschmidt (vgl. ebd., 147)unterscheidet zwischen der Bereichsabhängigkeit der materialen Geltungskriterien und der Bereichsunabhängigkeit ihrer Funktion, so dass die Rollenanalyse der Äußerungen als bereichsunabhängige argumentative Funktionsträger innerhalb des Systems der Argumentation zu ergänzen sind durch die Analyse der bereichsabhängigen Geltungskriterien, die für die argumentativ verwendeten Äußerungen aufgrund ihrer materialen Typizität jeweils einschlägig sind. Im 3. Schritt der formalen Argumentationsanalyse (vgl. ebd., 178ff.) werden die Schlussregeln analysiert, die den Topoi (Topos) der antiken Rhetorik entsprechen. Die formale Analyse untersucht die Argumente hinsichtlich der Muster, nach denen sie strukturell gebildet sind und zielt auf die Typologisierung der Argumente nach abstrakten Formprinzipien ab. Zu Recht weist Spranz-Fogasy (2005, 142) darauf hin, dass viele Argumentationstheorien – wie auch die von Kopperschmidt – von einem „idealisierten“ Argumentationsbegriff ausgehen, in dem „einigungsorientiert und realitätsbezogene Probleme gemeinsam bewältigt werden können unter Beachtung logischer Stimmigkeit, Verfahrensgerechtigkeit und symmetrischer Beteiligungsrechte“. Vor diesem allgemeinen argumentationstheoretischen Hintergrund reklamiert Kindt (2001, 169) Untersuchungen konkreter Alltagsgespräche: die A. sei ein „Stiefkind“ der Diskursforschung. Und auch Deppermann (2006), der einen Überblick über die Argumentationsforschung aus gesprächsanalytischer Sicht gibt, plädiert für die Einbeziehung der pragmatischen Aspekte des Argumentierens.

Argument, Argumentation

Lit.: Bayer, K., Argument und Argumentation: Logische Grundlagen der Argumentationsanalyse. 2007. Deppermann, A, Desiderata einer gesprächsanalytischen Argumentationsforschung. In: Ders./Hartung, M., Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien. 22006. 10-26. Eggler, M, Argumentationsanalyse textlinguistisch: Argumentative Figuren für und wider den Golfkrieg. 2006. Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handeln. Bd. 1. 2011. Hitchkock, D./Verheij, B. (eds.), Arguing on the Toulmin Model. New Essays in Argument Analysis and Evaluation. 2006. Kienpointner, M., Vernünftig Argumentieren. Regeln und Techniken der Diskussion. 1996. Kindt, W., Argumentationsanalyse: Ein Stiefkind der Diskursforschung. Warum die Rekonstruktion von Argumentation zu den Standardaufgaben in Kommunikationsuntersuchungen gehören sollte. In: Iványi, Z./Kertész, A. (Hrsg.), Gesprächsforschung. 2001. Klein, J., Die konklusiven Sprechhandlungen. 1987. Kopperschmidt, J., Methodik der Argumentationsanalyse. 1989. Spranz-Fogasy, Argumentation als alltagsweltliche Kommunikationsideologie. 2005.Toulmin, St., The Uses of Argument. Updated edition. 2003 [zuerst 1958]. dt. Der Gebrauch von Argumenten. 21996. Wengeler, M., Topos und Diskurs: Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985). 2003. KP

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