Gebrauchsregel

13.01.2016 -  

[engl. rule of usage, frz. règle d‘usage, russ. правило применения]

 

  1. Unter Berufung auf L. Wittgensteins Diktum von der → Bedeutung (2) eines Wortes als seinem „Gebrauch in der Sprache“ (2003, § 43) eingeführte Bedeutungskonzeption der pragmatischen bzw. „praktischen“ → Semantik (H.J. Heringer 1974). Wittgenstein selber hatte diese Formulierung lediglich gewählt, um deutlich zu machen, dass das Sprechen der Sprache Teil des gesellschaftlichen Handelns und von diesem nicht zu trennen ist, und zugleich eingeräumt, dass diese Bestimmung nur „für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‘Bedeutung’ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung“ gelten könne (nämlich z.B. nicht für Eigennamen). Seine eigentliche Bedeutungstheorie besteht hingegen in der anti-ontologischen Gleichsetzung der Bedeutung mit der „Erklärung der Bedeutung“ (2003, § 560), d.h. mit ihren möglichen Substituten (→ Synonymie, → Paraphrase). Dennoch wurde der Begriff der G. in Philosophie und Linguistik vielfach so verstanden, als sei die Bedeutung eines Wortes mit seiner G. identisch. Was aber eine G. und wie diese zu beschreiben sei, war damit noch nicht erklärt. Außerdem wurde durch die Verwendung des Begriffs G. der von den Sprechern mit einem Wort zweifellos verbundene kognitive Wert oder Gehalt auf fast schon behavioristische Weise (→ Behaviorismus) in den Hintergrund gedrängt. Auf der anderen Seite begegnet als G. in den meisten Arbeiten naturgemäß nichts anderes als das, was zuvor als → Inhalt, → Bedeutung, → lexikalische Bedeutung (i.S.v. semantischen und stilistischen Merkmalen) oder Paraphrase bereits bekannt war.
  2. Bei A. Burkhardt (1979) daher eingeengt auf die jeweils zur Wortbedeutung gehörigen und daher den Sprechern und Hörern bekannten Ko- und Kontextregeln, die die möglichen Kollokationen und die (stilistisch und sozial) situationsadäquate Verwendung lexikalischer Einheiten bestimmen. So gehört zur Bedeutung des Adjektivs quitt die seine syntaktisch-semantische Kombinierbarkeit bestimmende Kotextregel ‘nur prädikativ verwendbar’ (also nicht: *der mit mir quitte Freund), und die Lexeme Bruder, Kumpel, Kamerad, Genosse, die durch gemeinsame Arbeit in derselben Gruppe oder Institution verbundene Personen bezeichnen, unterscheiden sich durch Kontextregeln wie ‘im Kloster’, ‘im Bergbau’, ‘in der Armee’ und ‘in der kommunistischen, sozialistischen oder sozialdemokratischen Partei'’. Zu den Kotextregeln gehören auch die lexikalischen Solidaritäten. Nur bei Funktionswörtern (→ Konjunktion, → Präposition, → Abtönungspartikel und anderen Gesprächswörtern) sind Bedeutung und G. identisch. Zur historisch-semantischenAnwendung dieser Unterscheidungen vgl. Burkhardt (1991), zur kontrastiv-linguistischen Burkhardt (2010).

→ Funktionswort, → Gesprächswort, → Kollokation, → Kontext, → Kotext, → lexikalische Solidarität

Lit.: Burkhardt, A., Über die Möglichkeit der Frage nach der Bedeutung. In: ZGL 7.1979, 129-150. Burkhardt, A., Vom Nutzen und Nachteil der Pragmatik für die diachrone Semantik. In: Busse, D. (Hrsg.): Diachrone Semantik und Pragmatik. 1991, 7-36. Burkhardt, A., Über Nebel, Studenten und Telefonbücher. Prolegomena zur Kontrastiven Semantik. In: Zhu, J./Hoberg, R. (Hrsg.): Germanistische Sprachwissenschaft und Deutschunterricht in chinesisch-deutscher Perspektive. 2010, 163-172. Fritz, G., Bedeutungswandel im Deutschen. 1974. Fritz, G., Einführung in die historische Semantik. 2005. Heringer, H.J., Praktische Semantik. 1974. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. 2003 (zuerst: 1953). AB

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