Gotisch

22.12.2015 -  

[engl. Gothic, frz. gotique, russ. готский язык]

 

Zur ostgerm. Gruppe gehörige Sprache bzw. Sprachstufe; von allen germ. Stammessprachen der Völkerwanderungszeit die einzige, die in einem umfangreichen Textkorpus überliefert ist. Dieses besteht vor allem aus der – wenn auch nicht vollständigen – Bibelübersetzung des westgot. Bischofs Wulfila (4. Jh.). Während die oft nur spurenhafte Überlieferung anderer germ. Sprachen der vorkarolingischen Zeit zumeist in Namen (innerhalb lat. Texte) oder kurzen Inschriften vorliegt, die wenig Rückschlüsse auf → Flexion und → Syntax zulassen, ermöglicht die gute Überlieferungslage des Got. Einblick in seine Grammatik, insbesondere in die Phonologie sowie die Wortbildungs- und Flexionsmorphologie. Zu bedenken ist allerdings, dass uns in der Sprache der Bibelübersetzung weder ein Abbild des Got. schlechthin noch eines der gesprochenen Alltagssprache jener Zeit vorliegt, sondern vielmehr eine geschriebene, der griech. Übersetzungsvorlage eng folgende, zu religiösen Zwecken bestimmte → Varietät des Got. (die man daher auch „Bibelgotisch“ nennt). Das Spezifische dieser Varietät macht sich insbesondere im Wortschatz bemerkbar: Wörter wie aípiskaúpus ‘Bischof’ oder andhuleins ‘Offenbarung’ kommen vor, solche wie *addi ‘Ei’ (s.u., Krimgotisch) nicht.

Das Got. weist, verglichen mit dem westgerm. Ahd. (dessen Vorläufer im Sinne der → Stammbaumtheorie es also nicht ist, vielmehr ist es, bildlich gesprochen, „Oheim“ bzw. „Vetter“ des Dt.), in seinen grammatischen Formen deutlich archaischere Züge auf. Die durch die germ. Wurzelsilbenbetonung (→ Germanisch) bedingte allgemeine Reduktion der Flexions- und Stammbildungs-Suffixe ist im Got. weniger fortgeschritten. Beispiele: Die idg. mask. Nominativendung -s ist weithin noch erhalten (got. gasts, ahd. gast ‘Gast’), die im Ahd. nur noch resthaft vorhandene u-Deklination ist im Got. erkennbar (got. handus, ahd. hand ‘Hand’). Archaisch ist gleichfalls die Bewahrung der Reduplikation in der 7. Ablautreihe (got. haldan, haíhald gegenüber ahd. haltan, hialt ‘halten, hielt’). Als einzige der überlieferten agerm. Sprachen besitzt das Got. noch ein (aus dem idg. → Medium hervorgegangenes) synthetisch gebildetes Passiv (z.B. haita-da ‘er wird genannt, heißt’), allerdings nur im Präsens (→ Indikativ und → Optativ). Das noch dreistufige Numerussystem des Got. (→ Singular, → Dual, → Plural) manifestiert sich sowohl im Personalpronomen der 1. und 2. Person (z.B. ik ‘ich’, wit ‘wir zwei’, weis ‘wir’) als auch in allen korrespondierenden Flexionsformen des Aktivs des Verbums (z.B. nimôs ‘wir zwei nehmen’, nimam ‘wir nehmen’). Altertümliche Merkmale wie diese u.v.a.m. machen das Got. zur wichtigsten Grundlage für die Rekonstruktion des Urgerm.

Während die Sprachen der West- und Ostgoten insgesamt das Ende der Völkerwanderungszeit nicht wesentlich überlebt zu haben scheinen, hat die Sprache einiger militärischer Abteilungen der Ostgoten, die 258 n. Chr. die Krim erobert hatten und dort offenbar ansässig geblieben sind, noch mindestens 1300 Jahre überdauert. Vereinzelte Mitteilungen über ein „ydioma teutonicum“, das dort gesprochen werde, gibt es das gesamte Mittelalter hindurch. Um 1560 begegnet der ndl. Diplomat Ogier Ghiselin von Busbecq in Konstantinopel zufällig zwei aus der Krim stammenden Männern, die dieses „Krimgotische“ noch bruchstückhaft, teils auch nur passiv beherrschen, und fragt dabei eine Liste von 68 Wörtern und Sätzchen aus ihnen heraus, zu denen z.B. die krimgot. Wörter schlipen (got. slepan) ‘schlafen’ und ada (got. *addi, N.A.Pl. *addja) ‘Ei’ gehören. Die got. Herkunft des Krimgotischen gilt trotz gelegentlich vorgetragener Zweifel als gesichert.

Lit.: Braune, W., Gotische Grammatik. Bearb. von F. Heidermanns. 202004. Krause, W., Handbuch des Gotischen. 31968. Marchand, J.W., Gotisch. In: Schmitt, L.E., Kurzer Grundriß der germanischen Sprachen. Bd 1. 1970, 94-122. Rauch, I., The Gothic Language. 2002. Schmitt, R., Gotische Sprache. In: Beck, H. (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde von J. Hoops. Bd. 12. 21998, 458-461. Binnig, W., Gotisches Elementarbuch. 5., völlig neubearb. Aufl. der Darstellung von H. Hempel. 1999. HB

 

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