Ikonismus
[engl. iconism, frz. iconisme, russ. иконизм]
1. Die (Saussures These von der → Arbitrarität sprachlicher Zeichen partiell widersprechende) Verwendung ikonischer Signifikanten (→ Signifikant), deren materielle Gestalt ihrem Bezeichneten (→ Signifikat) ähnlich ist (→ Ikon), auf den verschiedenen Ebenen der Sprache (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Phraseologie, Syntax, Text) (vgl. dazu Posner 1980). Am deutlichsten wird der innersprachliche I. an Onomatopoetika (→ Onomatopoetikum) wie dem dt. Verb gluckern oder der engl. schallnachahmenden → Interjektion bang (dt. peng). J. Pesot (1980, 8ff.) hat Argumente dafür geliefert, dass sogar der Qualität von Vokalen und Konsonanten sowie reduplizierenden Bildungen (mit und ohne → Ablaut) ikonische Qualität zugemessen werden könne. Auf ikonische Aspekte der Morphologie, d.h. auf „konstruktionellen I.“, hat W. Mayerthaler (1980, 20ff.) hingewiesen, z.B. auf das Prinzip, wonach morphologisch komplexere Formen auch semantisch komplexer sind und „merkmallose Kodierung“ auf semantische Basiskategorien (wie → Singular) verweist. Ausgehend von Mayerthaler (1981) fragt Munske (1994, 17ff.) nach Erscheinungsformen eines „konstruktiven I.“ im deutschen Schreibsystem. Als Prinzip der Erklärung von Sprachwandelprozessen hat Diewald (2010) dem „konstruktionellen“ einen „re-konstruktionellen I.“ gegenübergestellt, der in der „Herstellung bzw. Wiederherstellung einer Form durch proportionale Angleichung an ein bekanntes Muster“ (ebd., 186) besteht. J.R. Ross (1980) konnte zeigen, wie auch im phraseologischen Bereich ikonische Prinzipien insofern eine Rolle spielen, als „erstarrte“, additive Wortverbindungen (Kind und Kegel, ganz und gar; → Zwillingsformel) fast immer mit den (als „Normalfall“) semantisch weniger markierten (Lebewesen vor Nicht-Belebtem: Peter und der Mond, Männlich vor Weiblich: Mann und Frau, Erwachsene vor Nicht-Erwachsenen: Mutter und Kind) und/oder phonetisch weniger aufwendigen Wörtern (z.B einsilbig vor zweisilbig, Wort mit kurzem Vokal vor Wort mit Langvokal usw.) beginnen. Anhand der Regeln für die Reihenfolge der Attribute diskutiert R. Posner (1980, 57ff.) die ikonische Kraft der → Syntax. Am Beispiel der heute (fast) einheitlich mit th- anlautenden engl. Wörter mit demonstrativer oder konnektiver Bedeutung sowie der ebenfalls im Engl. erkennbaren Herausbildung eines kurzvokalischen Präteritums bei Verben mit punktueller oder kompletiver Bedeutung und eines langvokalischen bei Verben, die den durativen Aspekt ausdrücken, hat F. Plank (1979) „Ikonisierung“ und „De-Ikonisierung“ als systemstabilisierend und vereinheitlichend wirkende Prinzipien grammatischen und lexikalischen Formenwandels beschrieben.
2. Semiotisches Konzept der Textinterpretation, wonach die Art der für die textuelle Beschreibung verwendeten Sprachmittel (auf den Ebenen von Rhythmus/Metrum, Lexik, Syntax und Semantik) auf Eigenschaften des Beschriebenen schließen lässt, z.B. die unruhige, unrealistisch verzerrte und sprunghafte Darstellung der Welt(wahrnehmung) einer Person auf deren innere Unrast oder Schizophrenie (wie in Büchners Lenz).
→ Ikon, → Onomatopöie, → Lautsymbolik, → Arbitrarität des sprachlichen Zeichens
Lit.: Diewald, G., Zum Verhältnis von Verstärkungsprozessen und Grammatikalisierung. In: Harnisch, R. (Hrsg.), Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung. 2010, 181-198. Enkvist, N.E., Experiential inconicism in text strategy. In: Text 1, 1980, 97-111. Haiman, J., Natural Syntax: Iconicity and Erosion. 1985. Mayerthaler, W., Ikonismus in der Morphologie. In: Zeitschrift für Semiotik 2.1980, 19-37. Ders., Morphologische Natürlichkeit. 1981. Munske, H.H., Ist eine „Natürliche Graphematik“ möglich? In:Werner, O. (Hrsg.), Probleme der Graphie. 1994, 9-24. Pesot, J., Ikonismus in der Phonologie. In: Zeitschrift für Semiotik 2.1980, 7-18. Plank, F., Ikonisierung und De-Ikonisierung als Prinzipien des Sprachwandels. In: Sprachwissenschaft 4.1979, 121-158. Posner, R., Ikonismus in den natürlichen Sprachen. In: Zeitschrift für Semiotik 2.1980, 1-6. Ders., Ikonismus in der Syntax. Zur natürlichen Stellung der Attribute. In: Zeitschrift für Semiotik 2.1980, 57-82. Ross, J.R., Ikonismus in der Phraseologie. In: Zeitschrift für Semiotik 2.1980, 39-56. Sebeok Th.A., Iconicity. In: Modern Language Notes 91.1976, 1427-1456. Westcott R.W., Linguistic iconism. In: Lg 47.1971, 416-428. AB