Semiotik

28.03.2016 -  

[engl. semiotics, frz. sémiotique, russ. семиотика] (griech. τέχνη σηµειωτική ‘(Kenn-)Zeichenlehre’)

Die Wissenschaft von den Zeichen. Innerhalb der strukturalistischen Tradition auch Semiologie, Sematologie. Nach Ch.W. Morris (1964) zuerst in der griechischen Medizin, die Diagnose und Prognose als Zeichenprozesse verstand (wobei Symptome als Zeichen interpretiert wurden). Als Synonym zu Symptomatologie ist der Begriff auch in der heutigen Medizin noch geläufig (vgl. Pschyrembel 2015). Doch bereits bei den Stoikern war er auch als umfassender Terminus für Logik und Erkenntnistheorie gebräuchlich (vgl. Lyons 1980, I, 112). In der neueren Philosophie wird er zuerst von John Locke aufgegriffen, der im letzten Kapitel (XXI) seines Essay Concerning Human Understanding (1690) eine Grundeinteilung der Wissenschaften in „three great provinces of the intellectual world“ vornimmt und dabei der „natural philosophy“ (φυσική) und der praktischen Philosophie (πρακτική), zu der die Ethik als Teilgebiet gerechnet wird, eine dritte Disziplin an die Seite stellt, die er griechisch als σηµειωτική bezeichnet und erläutert als: „the doctrine of signs“ (2, 309). Für Locke ist die S. die Basisdisziplin, die sich mit der Untersuchung der Zeichen zu beschäftigen hat, die ihrerseits verwendet werden, um Ideen zu kommunizieren oder im Gedächtnis zu speichern.

Unter ausdrücklicher Anbindung an Locke wird die S. von Johann Heinrich Lambert im Neuen Organon (1764, II) als „Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge“ bestimmt und neben „Dianoiologie“ („Lehre von den Gesetzen, nach welchen sich der Verstand im Denken richtet“), „Alethiologie“ („Lehre von der Wahrheit, sofern sie dem Irrtum entgegengesetzt ist“) und „Phänomenologie“ („Lehre von dem Schein) als dritte in den Rahmen der vier von ihm unterschiedenen Verstandeswissenschaften eingefügt. Aufgabe der S. ist die Angabe dessen, „was die Sprache und andere Zeichen für einen Einfluß in die Erkenntnis der Wahrheit haben, und wie sie dazu dienlich gemacht werden können.“ (1, XI). Im Ggs. dazu wird der Begriff fast zeitgleich bei J.G. Herder (und ebenso bei Goethe) im Sinne der medizinischen Symptomatologie verwendet; hier treten über die physischen Leiden hinaus die der Psyche in den Blick: „Wenn einst die S. der Seele studirt werden wird, wie die Semiotik des Körpers, wird man in allen Krankheiten derselben ihre so eigne geistige Natur erkennen, daß die Schlüße der Materialisten wie Nebel vor der Sonne verschwinden werden.“ (13, 187) Da zu den Symptomen der Seelenzustände auch die Sprache gezählt wird, kommt Herder dem Lambertschen Begriff zuweilen sehr nahe: „Das würde die S. seyn: eine Entzieferung der Menschlichen Seele aus ihrer Sprache“ (2, 13).

In die heutige Wissenschaftssprache wurde der Terminus S. im Sinne der Wissenschaft von den (sprachlichen und nichtsprachlichen) Zeichen, Zeichentheorie von Charles S. Peirce (1907) eingeführt, der aber nur recht undeutlich davon spricht, „[...], daß ich, soweit ich weiß, ein Pionier oder eher ein Hinterwäldler bei dem Unternehmen bin, das, was ich S. nenne, d.h. die Lehre von der wesenhaften Natur und den fundamentalen Verschiedenartigkeiten möglicher Semiose, zu klären und zu erschließen“ (5.488). Anstelle von S. hat der Begründer des linguistischen Strukturalismus, Ferdinand de Saussure, in seinen 1916 posthum als Cours de linguistique générale veröffentlichten Vorlesungen den Terminus Semiologie (in der dt. Übersetzung: Semeologie) verwendet, der seither – wie J. Lyons sich ausdrückt – „wohl vor allem von Gelehrten verwendet [wird], die einen typisch Saussureschen Standpunkt [...] vertreten“ (Lyons 1980, I, 113). Für Saussure war die Linguistik ein Teil der als allgemeine Zeichenwissenschaft bestimmten Semiologie, die ihrerseits als Teil der Sozialpsychologie bestimmt wurde (vgl. Saussure 2000, 18 ff.). Trotz expliziter Rückbindung an den Begründer des linguistischen Strukturalismus bevorzugt hingegen Bühler (1934, XXVII f., 9 u. ö.) die Bezeichnung Sematologie.

Als eigentlicher Begründer der modernen S. muss aber Ch.W. Morris (1938) gelten. R. Carnap (1954) nennt die gesamte in der Metasprache formulierte Theorie über eine Objektsprache die S. der betreffenden Sprache. Für Morris hingegen beschäftigt sich die S. „nicht mit einem speziellen Gegenstandsbereich, sondern mit allen Gegenständen, insoweit (und nur insoweit) sie an einer Semiose beteiligt sind.“ (1975, 21) Damit wird auch die Sprachwissenschaft als Teil der S. begriffen, denn die S. „ist die Wissenschaft von den Zeichen, ob sie nun tierisch oder menschlich, sprachlich oder nicht-sprachlich, wahr oder falsch, adäquat oder inadäquat, gesund oder pathologisch sind.“ Ihr Gegenstand sind demnach Zeichen aller Art, von den kausalen Anzeichen ( Index) über (ihrem Gegenstand) analoge Zeichen ( Ikon) bis hin zu den zugleich konventionellen und arbiträren Zeichen ( Symbol (2)). Für U. Eco (1972, 38) untersucht die S., „alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse“. Ihre Absicht sei es „zu zeigen, wie den kulturellen Prozessen Systeme zugrundeliegen“ (s. auch 1991, 28). Wenig überzeugend ist demgegenüber J. Lyons (1980, I, 113) einschränkender Vorschlag, „daß man den Terminus ‘S.’, wie er jetzt von den meisten repräsentativen Autoren verwendet wird, besser so verstehen sollte, daß er sich auf die Analyse von Signalsystemen bezieht“. Gemäß den Faktoren des Zeichenprozesses bzw. den Bezugspunkten des Zeichens im semiotischen Dreieck (s. auch Bühler’sches Organonmodell) gliedert sich die S., nach Morris (1938) und Carnap (1942), in die Teildisziplinen Pragmatik, Semantik und Syntax (oder Syntaktik): „Einerseits kann man die Beziehung zwischen den Zeichen und den Gegenständen, auf die sie anwendbar sind, untersuchen. Diese Relation nennen wir die semantische Dimension des Zeichenprozesses, [...]; die Untersuchung dieser Dimension nennen wir Semantik. Oder man macht die Beziehung zwischen Zeichen und Interpret zum Untersuchungsgegenstand. Diese Relation nennen wir die pragmatische Dimension des Zeichenprozesses [...]; die Untersuchung dieser Dimension heißt Pragmatik. Eine wichtige Zeichenbeziehung ist noch zu nennen: die formale Relation der Zeichen zueinander. [...] Diese dritte Dimension nennen wir die syntaktische Dimension des Zeichenprozesses, [...]; die Untersuchung dieser Dimension nennen wir Syntaktik.“ (Morris)

Diagramm_Semiotik

Später (1946) hat Morris seine früheren Definitionen präzisiert: „Pragmatik ist der Teil der S., der sich mit dem Ursprung, den Verwendungen und den Wirkungen der Zeichen im jeweiligen Verhalten beschäftigt; Semantik befaßt sich mit der Signifikation der Zeichen in allen Signifikationsmodi; Syntaktik beschäftigt sich mit Zeichenkombinationen, ohne ihre spezifischen Signifikationen oder ihre Relation zu dem jeweiligen Verhalten zu berücksichtigen.“ (1981, 326) G. Klaus (1963) hat der S. aus der Sicht der materialistischen Zeichentheorie im Wesentlichen nur die Disziplin der Sigmatik als „Behandlung der Beziehungen, die zwischen [...] Zeichen und den abgebildeten Objekten o. Sachverhalten bestehen“, hinzugefügt. Während Morris zwischen „reiner“ (theoretischer), „deskriptiver“ (empirischer) und „angewandter“ (praktischer) S. unterschied, hat U. Eco (1985) der „allgemeinen“ (philosophischen) S. eine „spezielle“ gegenübergestellt, deren Aufgabe es ist, die „Grammatik“ eines bestimmten Zeichensystems zu beschreiben. Für eine mit Peirce als Theorie der Zeichen in Aktion bestimmte S. sieht A. Eschbach (1980) drei zentrale Themen: „(1) die Frage nach den kennzeichnenden Merkmalen des Zeichens in Aktion oder der Semiosis; (2) die Frage nach dem Status von S. im Hinblick auf Logik, Erkenntnistheorie und Hermeneutik; (3) die Frage nach der Konstitution des Zeichen-Objekts als Frage nach der Konstitution von Zeichen und Bedeutung.“ Als Aufgabenfelder der S. nennt U. Eco (1972, 20ff.; 1991, 29ff.) u.a.: Geruchssignale, Geschmackscodes, Paralinguistik, Medizin. S., Kinesik und Proxemik, Musikal. Codes, Formalisierte Sprachen, Geschriebene Sprachen, unbekannte Alphabete, Geheimcodes, Visuelle Kommunikation, Kulturelle und ästhetische Codes sowie Massenkommunikation. Neben der Thematisierung der Sprache sind v.a. Architekturs., Literaturs., Film- und Kunsts. sowie Zoos. wesentliche Anwendungsbereiche. Im Rahmen des „iconic“ bzw. „visual(istic) turn“ hat sich die semiotische Forschung in der jüngeren Vergangenheit v.a. der Bilds. gewidmet (vgl. z.B. Sachs-Hombach 2003; Friedrich/Schweppenhäuser 2010; Wildgen 2013). S. ist der wissenschaftlich und philosophisch begründete Versuch, den Menschen als animal symbolicum zu begreifen. Zwar hat Eco (2000, 24) die S. programmatisch als „Praxis“ bestimmt, doch auch wenn es inzwischen zahlreiche Arbeiten zur Angewandten S. gibt, war sie faktisch bisher überwiegend Theorie.

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