Sinn

08.06.2016 -  

[engl. sense, frz. sens, russ. смысл, значение]

1. (a) In der logisch-positivistischen → Sprachphilosophie bei G. Frege (1892) die durch ein (als Argument gebrauchtes) Einzelzeichen zum Ausdruck gebrachte „Art des Gegebenseins“ des durch es bezeichneten Gegenstandes, d.h. seiner → „Bedeutung“ (1). Danach haben etwa die Eigennamen Abendstern und Morgenstern dieselbe Bedeutung, d.h. denselben Referenten (→ Referent), nämlich den Planeten Venus, aber verschiedenen S.: ‘Stern, der am Abendhimmel erscheint’ bzw. ‘Stern, der am Morgenhimmel erscheint’. Derselbe S. (d.h. dasselbe → Designat, derselbe → Inhalt, dieselbe → Bedeutung (2)) kann in derselben Sprache (→ Synonymie) oder in anderen Sprachen (→ Heteronymie) verschiedene Ausdrücke haben. Im Lichte der Fregeschen terminologischen Unterscheidung erweisen sich Identitätsaussagen des Typs a = b (Der Abendstern ist der Morgenstern) als Behauptungen, die feststellen, dass zwei verschiedene Ausdrücke denselben Gegenstand bezeichnen. (Vgl. dazu auch Lyons1980, 210) Weil Ausdrücke auch metasprachlich (→ Metasprache) verwendet werden können (wenn über die Bedeutung bzw. den S. des Ausdrucks ‘A’ gesprochen wird), unterscheidet Frege die „gewöhnliche“ Bedeutung von seiner „ungeraden“ und den „gewöhnlichen“ S. eines Zeichens von seinem „ungeraden“. In solchen Fällen ist die „ungerade“ Bedeutung eines Zeichens gleich seinem „gewöhnlichen“ S. (b) Den S. des (Behauptungs-)Satzes bestimmt Frege als den von diesem ausgedrückten, vom Vorhandensein einer „Bedeutung“ unabhängigen „Gedanken“. In diesem Sinne schreibt auch L. Wittgenstein (1921): „Nur der Satz hat S.; nur im Zusammenhang des Satzes hat ein Name Bedeutung.“ (TLP 3.3) In „Der Gedanke“ (1918/19) vertritt Frege die Auffassung, dass der S. – im Unterschied zur wesentlich subjektiven „Vorstellung“ – ein objektiver Gedanke sei, der wahr oder falsch sein könne. Am Beispiel des Satzes Dr. Gustav Lauben ist verwundet worden zeigt er, dass verschiedene Personen, die je unterschiedliches Wissen über den Namensträger haben, mit demselben Satz unterschiedlichen S. verbinden können, obwohl sie sich auf dasselbe Individuum beziehen. Im Ggs. zum wahrheitswertneutralen S. ist die Bedeutung (3) eines Satzes für Frege dessen → Wahrheitswert. (c) In der → Sprechakttheorie bei J.L. Austin (1962) i.S.v. → Prädikation. Austin bestimmt „reference“ und „sense“ als die beiden Komponenten des rhetischen Aktes → (rhetischer Akt), die zusammen die Bedeutung („meaning“) ergeben.

2. Bei F. de Saussure gleichbedeutend mit „signification“ (→ Signifikation), d.h. der aktualisierten Teilbedeutung (→ aktuelle Bedeutung) eines Zeichens oder einer Zeichenverbindung im Ggs. zum Signifikat (→ Bezeichnetes) als der Bedeutung (2) auf der Ebene der → Langue und zum im Sprachsystem jeweils durch die semantisch benachbarten Zeichen bestimmten → „Wert“ („valeur“) (vgl. Raggiunti 1990, 164ff.).

3. Bei St. Ullmann (1957) „die Vorstellung, die der Name [→ Signifikant] vergegenwärtigt“ (1972, 64f.), d.h. das, was normalerweise als → Bedeutung (2) bezeichnet wird. Name und S. sind für Ullmann wechselseitig aufeinander bezogen. Ihre Wechselbeziehung wird als „Bedeutung“ definiert.

4. Bei J. Lyons (1968) das „System von Beziehungen, die das Wort mit anderen Wörtern des Vokabulars eingeht. [...] Was wir als S. eines lexikalischen Elements bezeichnen, ist die ganze Gruppe von Sinnbeziehungen (Synonymie mit eingeschlossen), die das betreffende Element mit anderen Elementen des Wortschatzes eingeht.“ (1989, 438) Abweichend davon und in ausdrücklicher Erweiterung des Fregeschen S.begriffs hat Lyons den „S.“ in seiner späteren „Semantik“ (1977) als vom Verhältnis der Wörter bzw. Ausdrücke zu ihren Referenten oder Denotata (→ Denotat) verschiedene, zuweilen sogar davon unabhängige Relation „zwischen den Wörtern oder Ausdrücken einer einzigen Sprache“ (1980, 218) bestimmt. Der S. eines syntaktisch komplexen Zeichens ist dann „eine Funktion der Sinne seiner Teillexeme und ihres Vorkommens in einer bestimmten grammatischen Konstruktion“ (ebd.).

5. In der Interpretativen Semantik (→ Interpretative Semantik) bei J.J. Katz (1999, 131) eine (von mehreren) Teilbedeutungen eines Sprachzeichens (→ Semem): „We shall use the term sense in its customary usage to refer to one of the different meanings which a morpheme (or expression) may bear and reserve the term meaning for the collection of senses that a morpheme (or expression) has.“

6. Seit der in den 1970er Jahren durch die Rezeption der sprachanalytischen Philosophie (→ Philosophie der Alltagssprache), insbesondere der → Sprechakttheorie, bewirkten „pragmatischen Wende“ in der Sprachwissenschaft, die am nachhaltigsten die Semantik beeinflusst hat, häufig i.S.v. ‘Handlungsziel, -zweck, Leistung’ (jedoch oft mit zwischen → Illokution und → Perlokution schillerndem Gebrauch). Gelegentlich wird dabei auch auf M. Weber (zuerst 1921) zurückgegriffen, der im Rahmen seiner „verstehenden“ Soziologie den „S.“ als das vom Handelnden subjektiv Gemeinte bestimmt und als Kriterium der Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten verwendet hatte (vgl. 1972, 1f.). 7. Seit H. Weinrich (1966) zuweilen auch in der → Textlinguistik und bezeichnet hier die einem Text oder Textabschnitt zugrundeliegende Handlungs- oder Aussageabsicht. – Der Begriff S. gehört zu den (unentbehrlichen) Termini, die nie verwendet werden sollten, ohne sicher zu sein, was genau man damit meint.

Lit.: Austin, J.L., How to Do Things with Words. 21975. dt. Zur Theorie der Sprechakte. 21994. Frege, G., Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. In: Ders., Logische Untersuchungen. Göttingen 41993, 30-53. Ders., Über Sinn und Bedeutung. In: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttingen 71994, 40-65. Katz, J.J., Semantic Theory. 1972. Ders., On the General Character of Semantic Theory. In: Margolis, E./Laurence, St. (eds.), Concepts. Core readings. 1999, 125-149. Lyons, J., Introduction to Linguistics. 1968. Dt. Einführung in die moderne Linguistik. 71989. Lyons, J., Semantics. Vol. 1. 1977. dt. Semantik. Bd. 1. 1980. Pétroff, A.J., Saussure et le sens en question. In: Linx 13.1985, 73-91. Raggiunti, R., Philosophische Probleme in der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures. 1990. Saussure, F. de, Cours de linguistique générale. 31968; http://www.clg2016.org/fileadmin/user_upload/ferdinand_de_saussure_cours_de_linguistique_generale.pdf. dt. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 32001. Saussure, F. de, Cours de linguistique générale. Zweisprachige Ausgabe französisch-deutsch, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Kommentar. Hrsg. von P. Wunderli. 2013. Schlieben-Lange, B., Linguistische Pragmatik. 31991. Ullmann, St., The Principles of Semantics. 1957. dt. Grundzüge der Semantik. 21972. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 51972. Weinrich, H., Linguistik der Lüge. 1966. Wittgenstein, L., Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. 241994. AB

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