Urslawisch

Jene Sprache, aus der sich die einzelnen Zweige des Slawischen (→ Slawische Sprachen), das Gemeinostslawische und die slawischen Einzelsprachen (Slavinen), entwickelt haben. Zeitlich gesehen, reicht U. von seiner Herauslösung aus einer bestimmten Dialektgruppe des Indoeuropäischen (→ Indogemanisch) bis in die Hälfte des 1. Jahrtausends unserer Zeitrechnung. Die Auflösung der urslawischen Spracheinheit hängt historisch mit den vielfältigen Bewegungen der Völker Europas zur Zeit der Großen Völkerwanderung zusammen, einer Zeit,in der auch die ersten sicheren historischen Nachrichten von slawischen Stämmen auftauchen. U. zeigt einerseits eine Reihe alter Gemeinsamkeiten mit dem Indoiranischen, zum anderen verbinden einige Gemeinsamkeiten U. mit dem Germanischen (→ Germanisch) und ganz besonders enge Beziehungen mit dem Baltischen. U. mit dem Baltischen gehört zur Nord- oder Zentralgruppe der indoeuropäischen Dialekte und nimmt eine Übergangsstellung zwischen einer z.T. losen Gruppe östlicher Dialekte (Indoiranisch, Armenisch, Griechisch) und einer kompakteren Westgruppe (Germanisch, Keltisch, Italisch) ein. Eine Unterscheidung des Terminus „U.“ von dem ebenfalls in diesem Sinne häufig gebrauchten Terminus „Gemeinslawisch“ (общеславянский, Common Slavic) ist sinnvoll, da letzterer zur Bezeichnung jener sprachlichen Prozesse und Erscheinungen verwendet werden kann, die nach der urslawischen Periode in der Geschichte der slawischen Einzelsprachen und einzelnen Zweige gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen (vgl. Бернштейн 1961,43; Aitzetmüller 1978, 7).

Karte Urslawisch

In der Entwicklung des U. unterscheidet man zwei Hauptperioden: 1. eine Frühperiode (bevor das Gesetz der offenen Silben zu wirken begann) und 2. eine Spätperiode (nach dem Verlust der geschlossenen Silben) (vgl. Бернштейн 1961, 47-52). Es gab folgende Haupttendenzen der Entwicklung des urslawischen Lautsystems: 1. Entlabilisierung (offene Aussprache) der Vokale; 2. →Palatalisierung; 3.steigende Sonoritätswelle bzw. Gesetz der offenen Silben. Es haben folgende lautlichen Übergänge stattgefunden: ǒ-ă: корабль –καράβιον; okъno- finn. akkuna usw.; ō-ā: lat. dōnum, gr. δωρον – ursl. dārъ, russ. дар; ǔ-ъ: lit. budėti, ai.(altindisch) budhyatē – ursl. bъděti, russ. бдеть; ū-y: lett. mûdât(iês), apreuß. aumūsnan, mnd. mûten – ursl. myti, russ. мыть usw. Die Ausbildung von zwei Vokalreihen (vordere und hintere Vokale) führte im weiteren zu besonderen Beziehungen der Vokale zu den Konsonanten und Sonorlauten, die schließlich in der Tendenz zur Palatalisierung ihren Ausdruck fanden. Die erste Palatalisierung betraf velare Konsonanten. Dadurch fanden folgende Veränderungen statt: k>č, g>ž, x>š und schufen so sowohl für die nominale als auch für die verbale Wortbildung die Besonderheit eines Konsonantenwechsels, vgl. russ. рука-ручка, нога-ножка, муха-мушка; poln. ręka-rączka, noga-nóżka, mucha-muszka u.a. Als in der zweiten Periode des U. die diphthongische Verbindung oị (<oị und aị) in antekonsonantischer Stellung und im Auslaut zu ĕ bzw. i wurde, entstanden neue Vokale der vorderen Reihe, die auch nach k, g, x vorkommen konnten. Es kam zu einer erneuten, der sog. zweiten Palatalisierung, in deren Ergebnis die Velare k, g zu Dentalaffrikaten verändert wurden. Somit wurden k, g, x vor ĕ und i (<oị) zu c’, dz’ (<z’) und s’ (bzw. im Westslawischen zu š’): ki (<koị)>si: ar. вълци, nom. pl. zu вълкъ u.a. Die erste und die zweite Palatalisierung waren regressive Assimilationen (→ Assimilation) im Ggs. zur dritten, die eine progressive Assimilation darstellt. Die Velare k,g,x wurden nach ъ,i, ę und ŕ zu c’, dz’ (<z’) und s’ (bzw. im Westslawischen zu š’): ik>ic’: liko>lic’e, altslawisch лице, russ. лицо, vgl. russ. лик, облик. Es gab außerdem Veränderungen hinsichtlich der harten Konsonanten vor j (Assimilation): rj>r’; lj>l’; sj> š’; zj> ž’; kj> č; gj> dz’; xj> š’; pj>pl’; bj>bl’; vj>vl’; mj>ml’ u.a. Wesentliche Abweichungen vom Indoeuropäischen wies die →Morphologie auf. Es haben sich viele Suffixe auf Grund der Verschmelzung der Endlaute der Wurzelmorpheme und der indoeuropäischen Suffixe -k-, -t- u.a. herausgebildet. So entstanden die Suffixe -okъ, -ykъ, -ikъ, -ъkъ, -ukъ, -akъ u.a. Die Nomina im U. konnten nach Kasus und Numerus (Singular, → Dual und Plural) verändert werden. Später haben fast alle slawischen Sprachen (außer der slowenischen und luzičanischen) den Dual verloren. Die Deklinationstypen wurden nicht nach dem grammatischen Geschlecht, sondern nach dem Stammlaut bestimmt (Stämme auf -a, -o, -i, -u, -s, -n, -t, -r und athematische Stämme). Nach den Prozessen, die den Verlust der geschlossenen Silben verursachten, wurde dann das grammatische Geschlecht zum Hauptfaktor in der Bestimmung des Deklinationstyps (mask., fem., neutr.), vgl. die Nominalstämme in der Funktion des Attributs, die sog. nominalen Adjektive: dobrъ, dobra, dobro. In der späteren Entwicklungsphase des U. bildeten sich neue (pronominale) Adjektive dobrъjъ, dobraja, dobroje, die einen pronominalen Deklinationstyp hatten. Zahlwörter (→ Numerale) bildeten keine eigene Wortart. Nomina, die Zahlen bezeichneten, gehörten zu verschiedenen nominalen Stämmen. Als eine selbständige Wortart bildeten sie sich in allen slawischen Sprachen erst später heraus. Das Verb hatte zwei Stämme: den Infinitiv- und den Präsensstamm (vgl. bьrati-berọ). Vom Infinitivstamm wurden der Infinitiv, der Supinum, der Aorist, das Partizip auf -l, das Partizip Präteritum Aktiv und das Partizip Präteritum Passiv gebildet. Vom Präsensstamm wurden das Präsens, der Imperativ und die Partizipien Präsens (Aktiv und Passiv) gebildet. Das Verb hatte primäre Endungen im Präsens und sekundäre Endungen im → Aorist, im Imperfekt und im Imperativ. Groß war die Vielfalt der urslawischen Lexik. Obwohl das U. den Grundbestand des Indoeuropäischen hatte, verlor es viele indoeuropäische Wörter (die Bezeichnungen der Haus- und der wilden Tiere, einige soziologische Termini). Die alten Wörter gingen auch im Zusammenhang verschiedener Tabus verloren. So wurde statt der indoeuropäischen Bezeichnung des Bären eine tabuistische medvĕdъ – «едокмеда» (‘der Honigesser’) verwendet. Der Zerfall des U. und die damit in Zusammenhang stehende Herausbildung der einzelnen slawischen Sprachen, darunter auch des Gemeinostslawischen, ist ebenfalls als Übergang anzusehen, der mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm.

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