Aspekt
Grammatische Kategorie des Verbs in Aspektsprachen (wie z.B. den slavischen), die eine gedankliche Differenzierung des Handlungsablaufs durch den Sprecher zum Ausdruck bringt. Man unterscheidet zwischen dem perfektiven (= pf.) und dem imperfektiven (= ipf.) A. Der pf. A. (‚soverschennyj vid’ im Russischen) drückt das Merkmal der Ganzheitlichkeit des Geschehens aus. Der Blickpunkt des Sprechers liegt außerhalb des Geschehens: otkryl okno; napisal pis’mo. Der ipf. A. (‚nesoverschennyj vid’ im Russischen) beinhaltet meistens „[...] den prozessualen Charakter der Handlung in ihrer Dauer oder Wiederholbarkeit“, deswegen „[...] verhält sich der ipf. A. gegenüber dem Merkmal der begrenzten Ganzheitlichkeit des Geschehens neutral“ (Gladrow 1998, 64). Der Blickpunkt des Sprechers liegt inmitten des Geschehens: otkryval okno; pisal pis’mo.
Die Verwendung des Aspekts wird oft durch den → Kontext bzw. die Situation determiniert. Sequenzhandlungen und auch Inzidenzhandlungen werden im Kontext durch den pf. A. ausgedrückt: Posle togo, kak Olga napisala rabotu, ona pozvonila domoj. Simulationshandlungen, die zeitlich parallel verlaufen, werden als nichtganzheitlich aufgefasst und stehen deshalb im ipf. A.: Oni pili kofe i razgovarivali. Von großer Bedeutung sind hier auch die lexikalischen Indikatoren, wie z.B. plötzlich, endlich, fast, in einem Augenblick u.a. für den pf. A. und immer noch, mehr und mehr, regelmäßig, gewöhnlich, eine Woche lang für den ipf. A.
Im Dt. fehlt diese morphologische Verbkategorie, d.h. es gibt dafür keine systematischen formalen grammatischen Mittel am → Verb. Es werden statt dessen Ausdrucksmittel verschiedener sprachlicher Ebenen benutzt, z.B. Modalverben (→ Modalverb), Adverbien (→ Adverb), Partikeln (→ Partikel), die aber die Bedeutung des Aspekts einer slavischen Sprache nicht vollständig wiedergeben können. Im Frz. liegt der A. in einer Unterklasse der Präteritaltempora vor: Hier stehen die Passé simple-Formen als Handlungsabfolge und Sukzession in Opposition zu den Imperfektformen, die durch ihr Nacheinander Simultaneität schaffen. Während aber im Frz. Aspektrelevanz nur in einer Unterklasse der Präteritaltempora vorliegt, strukturiert der slavische A. das gesamte Verbalsystem. Auch im Engl. sind Ansätze für A. vorhanden.
Für die neuere Aspektforschung ist das Bestreben nach möglichst scharfer Trennung von A. und → Aktionsart charakteristisch, das schon von A.A. Potebnja (1888) und S. Agrell (1908) angebahnt wurde. Dabei bleibt man sich der engen Verflechtung von A. und Aktionsart bewusst. Die Aktionsarten bilden eine semantische Kategorie, die Unterschiede in der Art und Weise des verbalen Sachverhalts mit lexikalisch-semantischen Mitteln ausdrückt. Die Aspektkorrelation dagegen stützt sich auf ein System von Formen mit nur einer lexikalischen Bedeutung (→ lexikalische Bedeutung); oft wird auch nur ein → Lexem beansprucht) und ist insofern eine morphologische Kategorie (→ Morphologie). Der A. erhält in dieser Sicht streng paradigmatischen Charakter; für ihn wird reine, durch lexikalische Nuancen nicht beeinträchtigte ,Grammatikalität‘ postuliert.
In der nichtslavistischen Literatur werden die Begriffe A. und Aktionsart meist noch undifferenziert gebraucht; → Tempus, Aktionsart und A. bilden nicht selten eine diffuse Einheit. Das lässt sich historisch begreifen. Im 19. Jh. stellten J. Grimm, A. Schleicher, A. Leskien, K. Brugmann und W. Streitberg, angeregt durch Forschungen im slavischen Verbalbereich, äußerlich analoge Verhältnisse zwischen Verbstamm und → Präfix fest (z.B. russ. pro-tcshitat'; dt. durch-lesen). Es handelt sich hier jedoch um die Kategorie der Limitativität oder Determiniertheit (terminative und kursive, konklusive und nichtkonklusive Verben), die im Engl., Frz. und Dt. nicht durchgängig morphologisiert ist und sich mit der slavischen Opposition perfektiv : imperfektiv nicht deckt. Das slavische Aspektsystem ist eine Neubildung, die sich in enger Verflechtung mit dem Tempussystem entwickelt hat. Die Präfixe übernahmen dabei mit der Zeit rein grammatische Funktionen. Die Gegenüberstellung pf. : ipf. wurde dann durch sekundäre Suffigierung (→ Suffix) und Suppletivismus (→ Suppletivform) systemhaft ausgebaut.
J.A. Chochralski (1975) charakterisiert den A. im Poln. als obligatorische binäre morphologische Kategorie des Verbs mit polystrukturellem inneren Aufbau. Das Strukturbündel des Perfektivums enthält die Merkmale momentan/nicht-durativ, semelfaktiv/nicht-iterativ, resultativ/nicht-präresultativ; die Merkmale Imperfektivums sind durativ/nicht-momentan, iterativ/nicht-semelfaktiv, präresultativ/nicht-resultativ. Nicht alle Einzelstrukturen haben den gleichen kommunikativen (Häufigkeits-)Wert als ‘Bedeutungen’ des russ. pf. Aspekts (soverschennyj v) werden allgemein genannt a) zeitliche Begrenzung (der Handlung), b) summarisch, c) anschaulich-beispielhaft, d) konkret-faktisch, e) Einmaligkeit. Der ipf. A. (nesoverschennyj v) wird durch Verlauf/Prozess (der Handlung), Art und Weise einer Fähigkeit, Annullierung eines Resultats, allgemeine Fähigkeit, Wiederholung bestimmt.
→ durativ, → imperfektiv, → iterativ, → perfektiv, → semelfaktiv
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