Besetzen von Begriffen

Auch: Begriffe Besetzen. Lexikalisch-semantische Strategie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Eine „Besetzung der Begriffe“ sei eine „Revolution neuer Art“, eine „Revolution der Gesellschaft durch die Sprache“ (Biedenkopf 1982, 191). Eine solche über Schlagwörter (→ Schlagwort) v.a. medial propagierte Parteipolitik folgt der Ansicht, dass in pluralistischen Demokratien moderne Kämpfe um die politische Macht zu einem guten Teil über die Sprache ausgetragen werden, sodass derjenige, dem es gelingt, die gesellschaftlich akzeptierten Bedeutungen der umkämpften Wörter zu bestimmen und deren Interpretationen zu beherrschen, auch die öffentliche Meinung und die Handlungen der politischen Gegner beeinflussen kann (Strauß/Haß/Harras 1989, 34). In der Politolinguistik eröffnete das Modell des „Begriffe Besetzens“ die Möglichkeit, das semantische Lexikon-Modell durch ein pragmatisches Diskurs-Modell zu ersetzen (vgl. Burkhardt 1998, 104ff.). Die sprachliche Konkurrenz der verschiedenen (Diskurs-)Parteien kann ausdrucks- oder inhaltseitig geprägt sein. Klein (1989, 55f.) nennt die Koexistenz von Wörtern unterschiedlicher ideologisch-parteilicher Prägung „Bezeichnungskonkurrenz“: Die jeweilige Partei akzentuiert durch ihre Bezeichnung jene inhaltlichen Aspekte am Referenzobjekt, die geeignet erscheinen, emotionale Assoziationen zu wecken und dadurch Zustimmung oder Ablehnung zu provozieren. So entstand z.B. nach dem Zusammenbruch der DDR eine Konkurrenz zwischen dem Fahnenwort Beitritt (der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG), das die Befürworter der Vereinigung favorisierten, und dem (auf die völkerrechtswidrige Eingliederung Österreichs durch die Nationalsozialisten anspielenden) Stigmawort Anschluss, das Vereinigungsgegner benutzten. Die „semantischen Kämpfe“ als Ursache der„ideologischen Polysemie“ (vgl. Dieckmann 1969, 70ff.) zielen aber ebenso auch auf die „Bedeutungskonkurrenz“ verschiedener gruppenspezifischer Verwendungsweisen von homomorphen Wörtern. Um dem Fahnenwort Solidarität die assoziative Zuordnung zum politischen Gegner zu nehmen, kann z.B. (wie der damalige Generalsekretär Kurt Biedenkopf 1973 auf dem Hamburger CDU-Parteitag vorschlug) versucht werden, durch Verwendung des Wortes in entsprechenden Kontexten die assoziative Verbindung zur Arbeiterbewegung im öffentlichen Bewusstsein durch eine solche mit (christlich-karitativer) „Nächstenliebe“ zu ersetzen. Ziel der Parteien im Meinungskampf ist es, die öffentliche Wahrnehmung über die Zuschreibung positiver oder negativer Bedeutungen von Begriffen zu prägen und so die Meinungsbildung zu beeinflussen.

→ Diskurs, → Diskursanalyse, → Schlagwortforschung, → ideologische Polysemie, → Propaganda

Lit.: Biedenkopf, K.H., Sprache und Politik. In: Heringer, H.J. (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. 1982, 189–197. Burkhardt, A., Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte. In: Besch, W./Betten, A./Reichmann, O./Sonderegger, St. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihre Erforschung. Bd. 1. 21998, 98-122. Dieckmann, W., Sprache in der Politik. 1969. Hermanns, F., Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen ,politischen‘ Semantik. In: Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245 „Sprache und Situation“. 1994. Klein, J., Kann man ,Begriffe besetzen‘? Zur linguistischen Differenzierung einer plakativen politischen Metapher. In: Liedtke, F./Wengeler, M./Böke, K. (Hrsg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. 1991. Ders., Begriffe besetzen. In: Ders., Grundlagen der Politolinguistik. 2014, 103-112. Ausgewählte Aufsätze. Strauß, G./Haß, U./Harras, G., Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. 1989. Stötzel, G./Wengeler, M., Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. 1995. Wengeler, M., „Streit um Worte“ und „Begriffe besetzen“ als Indizien demokratischer Streitkultur. In: Kilian, J. (Hrsg), Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat. 2005 (= Thema Deutsch Bd. 6), 177-194. KP

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